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Reinheit des Herzens
von
Thanissaro Bhikkhu
Übersetzung ins Deutsche von: (Info)
Lothar Schenk
Alternative Übersetzung: noch keine vorhanden

In den ersten Wochen bei meinem Lehrer, Ajahn Fuang, ging mir allmählich auf, dass er übersinnliche Kräfte besaß. Er stellte sie niemals zur Schau, aber nach und nach spürte ich, dass er meine Gedanken lesen und zukünftige Ereignisse voraussehen konnte. Es begann mich zu faszinieren: Was wusste er sonst noch? Wie kam er zu seinem Wissen? Er musste entdeckt haben, wohin meine Gedanken zielten, denn eines Abends steuerte er mich sachte davon weg: "Weißt du", sagte er, "das Ziel unserer Übungspraxis ist einzig und allein Reinheit des Herzens. Alles andere ist nur Spielerei."

Dieser eine Ausdruck — Reinheit des Herzens — weckte mehr als mein Interesse. Er löste einen Widerhall ganz tief in meinem Inneren aus. Obwohl ich alle Illusionen gegenüber dem Christentum verloren hatte, hielt ich Kierkegaards Diktum immer noch in Ehren: "Die Reinheit des Herzens ist, Eines zu wollen". Ich stimmte nicht mit Kierkegard darin überein, was dieses "Eine" war, aber dass Reinheit des Herzens der wichtigste Schatz im Leben ist, das war auch meine Überzeugung. Und hier bot mir Ajahn Fuang an, mir zu zeigen, wie man sie entwickelt. Das ist einer der Gründe, warum ich bis zu seinem Tod bei ihm blieb.

Seine grundsätzliche Definition von Reinheit des Herzens war einfach genug: ein Glück, das zu keiner Zeit irgend jemandem schadet. Aber solch ein Glück ist schwer zu finden, denn gewöhnliches Glück erfordert, dass wir essen müssen. So wie es in der ersten Frage bei der Aufnahme eines Novizen heißt: "Was ist eins? Alle Wesen existieren durch Nahrung." So führte der Buddha junge Leute in das Thema der Kausalität ein: die primäre Kausalbeziehung ist nicht irgendetwas Harmloses wie Licht, das von Spiegeln zurückgeworfen wird, oder Juwelen, die Juwelen erleuchten. Es ist das Essen. Unser Körper benötigt Nahrung für sein Wohlbefinden. Unser Geist benötigt die Nahrung von angenehmen Sinnesberührungen, von Absichten und von Bewusstseinsakten selbst, um zu funktionieren. Sollte jemand einen Beweis dafür brauchen, dass Vernetztsein nicht immer Anlass zum Feiern ist, dann sollte er einmal darüber reflektieren, wie die Wesen in der Welt sich körperlich und emotional voneinander ernähren. Miteinander vernetzt existieren heißt Nahrung füreinander sein. Ajahn Suwat, mein zweiter Lehrer, sagte einmal: "Wenn es einen Gott gäbe, der dafür sorgen könnte, dass alle Wesen in der Welt satt werden, wenn ich esse, dann würde ich diesem Gott huldigen." Aber so funktioniert Essen eben nicht.

Gewöhnlich sehen selbst wohlgesonnene Leute im Essen kaum etwas, das Schaden anrichtet. Wir unterliegen dem Zwang, essen zu müssen, so sehr, dass wir die Augen vor den tiefreichenden Auswirkungen dieses Sachverhalts verschließen. Unser erstes lustvolles Erlebnis nach dem Schrecken der Geburt war die Fütterung. Wir nahmen diese Nahrung mit geschlossenen Augen auf, und die meisten Menschen lassen ihr ganzes Leben lang die Augen weiter geschlossen, wenn es um die Auswirkungen ihrer Nahrungsaufnahme geht.

Geht man aber an einen ruhigen, abgeschiedenen Ort und beginnt, sein Leben zu untersuchen, dann erkennt man allmählich, welch ein riesiges Problem allein darin steckt, Körper und Geist wohl genährt zu erhalten. Auf der einen Seite sieht man das Leiden, das man allein aufgrund des Bedürfnisses nach Nahrung für Andere erzeugt. Auf der anderen Seite sieht man etwas noch viel Bestürzenderes: die Emotionen, die in einem aufsteigen, wenn man nicht das Gefühl hat, dass Körper und Geist genug zu essen bekommen. Solange Körper und Geist keine verlässliche Nahrungsquelle haben, so entdeckt man, kann man sich auf sich selbst auch nicht verlassen. Man erkennt, warum selbst gute Menschen an einen Punkt kommen können, wo sie zu Mord, Betrug, Ehebruch oder Diebstahl fähig werden. Mit einem Körper geboren zu sein bedeutet, dass wir mit einem riesengroßen Bündel von zwanghaften Bedürfnissen geboren worden sind, die den Geist überwältigen können.

Glücklicherweise besitzen wir Menschen das Potenzial, unsere Essgewohnheiten zu zivilisieren, indem wir es lernen, uns von unserer Leidenschaft für die minderwertige Kost der Bilder, Klänge, Gerüche usw. zu entwöhnen und stattdessen im Inneren nach guter Nahrung zu suchen. Wenn wir die Freude, die aus Großzügigkeit, Ehrgefühl, Mitgefühl und gegenseitigem Vertrauen entsteht, zu schätzen lernen, erkennen wir, dass sie erfüllender ist als die Befriedigung, die daher kommt, dass wir einfach nur an uns raffen, was geht. Wir entdecken, dass unser Glück nicht unabhängig vom Glück Anderer bestehen kann. Wir können einander unsere Besitztümer, unsere Zeit, unsere Liebe, uns selbst schenken und sehen darin keinen Verlust, sondern einen Gewinn für beide Seiten.

Leider sind diese Herzenseigenschaften bedingt, denn sie hängen von einem zarten Netz von Überzeugungen und Gefühlen ab — vom Glauben an Gerechtigkeit und an das Gute im Menschen, von Gefühlen des Geborgenseins und der Zuneigung. Wenn dieses Netz zerreißt, was nur allzu leicht geschehen kann, dann kann das Herz bösartig werden. Wir sehen das bei Scheidungen, zerbrochenen Familien und in der Gesellschaft insgesamt. Wenn die Sicherheit unserer Nahrungsquelle — der Grundlage unseres geistigen und materiellen Wohlergehens — in Gefahr gerät, können die feineren Eigenschaften des Herzens verschwinden. Leute, die an Güte geglaubt haben, können plötzlich auf Rache sinnen. Wer für Gewaltlosigkeit eingetreten ist, kann plötzlich zum Krieg aufrufen. Und diejenigen, deren Herrschaft auf Zwietracht baut, — indem sie Mitgefühl, Zurückhaltung und Mitmenschlichkeit zum Ziel ihres Spottes machen —, finden eine ergebene Gefolgschaft für ihr Anliegen, dem Gesetz des Dschungels zur Herrschaft zu verhelfen.

Deswegen reicht ein Mitgefühl, das nur auf Überzeugung oder auf dem Gefühl begründet ist, nicht aus, um unser Verhalten zu gewährleisten — und deswegen ist auch die Übungspraxis, die das Herz zu einem unbedingten Glück führen soll, kein selbstsüchtiges Unterfangen. Wenn man Mitgefühl und gegenseitiges Vertrauen wertschätzt, ist eine solche Praxis eine zwingende Notwendigkeit, denn nur ein unbedingtes Glück kann die Reinheit des eigenen Handelns gewährleisten. Von Raum und Zeit unabhängig, ist es dem Wandel entzogen. Niemand kann seine Nahrungsquelle bedrohen, denn es muss nicht genährt werden. Hat man auch nur einen flüchtigen Blick auf dieses Glück geworfen, wird das Vertrauen in das Gutsein unerschütterlich. So können Andere einem vollkommen vertrauen, und auch sich selbst kann man wahrhaftig vertrauen. Es fehlt einem an nichts.

Diese eine Sache zu kennen, ist Reinheit des Herzens.