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Das Recht, Fragen zu stellen
von
Larry Rosenberg
Übersetzung ins Deutsche von: (Info)
Lothar Schenk
Alternative Übersetzung: noch keine vorhanden

Die Dharmapraxis besteht darin, leben zu lernen, und das ist gleichzeitig sowohl eine schwierige als auch eine Freude spendende Arbeit. Die Lehrausübung stellt außergewöhnliche Anforderungen an uns. Sie erfordert, dass wir nichts als gegeben hinnehmen, dass wir nichts aufgrund bloßen Glaubens als wahr akzeptieren. Gewissenhaftes und ehrliches Üben verlangt von uns, dass wir alles an uns und um uns in Frage stellen; wir müssen unsere am tiefsten sitzenden Vorstellungen und Überzeugungen auf den Prüfstein stellen, sogar die den Dharma selbst betreffenden. Von allen Lehren Buddhas ist das Kalama Sutta eine meiner Lieblingslehrreden, und zwar genau deswegen, weil sie zu einem derart rigorosen Infragestellen alles dessen, was wir glauben, ermutigt. In der Tat, wäre der Buddhismus nicht vom Geiste dieses Suttas durchdrungen — dem Geist des Nachforschens, des kritischen Untersuchens — bin ich ziemlich sicher, dass ich heute keine Meditationspraxis hätte.

Ich wurde in einer, wie man es nennen könnte, Tradition der Skepsis aufgezogen. Mein Vater war der erste, der mir beibrachte, wie wichtig es ist, Fragen zu stellen. Er stammte aus einer Linie von vierzehn Rabbis, lehnte aber, wie sein eigener Vater, der selbst früher Rabbi gewesen war, dieses Erbe ab; obwohl "ablehnen" eigentlich viel zu gelinde ausgedrückt ist. Er sprach häufig mit Verachtung nicht nur über das orthodoxe Judentum, sondern über jegliche Religion überhaupt. Ich erinnere mich, dass er mich vor dem Hebräisch-Unterricht beiseite zu nehmen pflegte und mir Dinge sagte wie: "Frag doch mal den Rabbi, wie der Moses das damals genau gemacht hat, als er das rote Meer teilte." Na ja, ich mochte da zwar mitmachen, aber wie man sich vorstellen kann, kam ich damit nie besonders gut an. Rabbi Minkowitz war nicht sonderlich darüber erfreut, auf diese Weise befragt zu werden. Ich glaube, mein Vater war der erste seit Menschengedenken, der einen Rabbi tatsächlich dafür bezahlte, dass er bei der Bar-Mitzvah-Feier seines Sohnes keine Rede halten sollte. "Bitte sehr", sagte mein Vater. "Hier ist das Geld. Halte keine Rede." Aber der Rabbi hielt seine Rede trotzdem. Und mein Vater schäumte.

Das heißt also, dass mein Vater an die Notwendigkeit kritischen Denkens glaubte und dies an mich weitergab. Seine Erziehungsweise ähnelte dem wissenschaftlichen Vorgehen. Wenn ich in Schwierigkeiten geriet — zuhause war ich gewöhnlich recht brav, aber in der Schule und in der Nachbarschaft stellte ich so einiges an — wurde mir der Prozess gemacht, wenn mein Vater von der Arbeit nach Hause kam. Eigentlich hatte er immer Anwalt oder Richter werden wollen, aber als Taxifahrer musste er sich eben mit einem Gerichtshof zufrieden geben, der aus Mutter und mir bestand. In seinem Gerichtshof ging es sehr einfühlsam und vernünftig zu: er hörte sich alles, was der Angeklagte zu sagen hatte, geduldig an, und manchmal ließ er auch, nachdem er alle Seiten gehört hatte, die Anklage fallen. Dann lächelte meine Mutter natürlich, und beide waren froh darüber, dass ich davongekommen war. Aber mein Vater erklärte mir auch immer, warum ich anders hätte handeln sollen: "Als du das gemacht hast, war Tanta Klara beleidigt, und dann rief sie deine Mutter an, und jetzt muss ich mir das anhören. Das nächste Mal nimm einfach das Roggenbrot und die Brötchen an dich und komm nach Hause. Ganz einfach." Er machte mir klar, dass alles, was ich tat, Folgen hatte. Und, was das Wichtigste war, er brachte mir bei, dass wir das Recht haben, über alles und jedes Fragen zu stellen. Aber dieses Recht bringt auch eine Pflicht mit sich: wenn wir die Handlungen anderer in Frage stellen, dann müssen wir auch bereit sein, unsere eigenen in Frage zu stellen.

Die Kalamer aus dem Kalama-Sutta waren, wie mein Vater, skeptische, aber verantwortungsbewusste Leute. Sie hatten lebhaftes Interesse an spirituellen Dingen, aber sie wurden von Lehrern und Lehren regelrecht überrannt, wobei jeder Lehrer um Gehör für sich kämpfte und jeder eine andere Philosophie oder Vorgehensweise vertrat. Ihre Lage unterschied sich kaum von unserer heutigen. Auch wir werden mit unterschiedlichen Möglichkeiten überschüttet: "Sie interessieren sich für Religion? Welche denn? Buddhismus? Welche Richtung denn? Tibetanisch? Ja, bei denen gibt es so etwa zehn verschiedene Spielarten. Theravada? Ach, das haben Sie auch probiert? Ein bisschen zu trocken für Ihren Geschmack? Da ist zuviel von Leiden und Vergänglichkeit die Rede? Vielleicht ziehen Sie ja Dzogchen vor, die ursprüngliche Vollkommenheit des Geistes. Klingt doch viel besser, oder? Und die kleiden sich auch nicht so trist. Die meisten Vipassana-Lehrer stammen garnicht aus Asien und sind noch nicht einmal Mönche; die tragen bloß Trainingshosen. Die tibetanischen Lehrer sehen wenigstens so aus wie Lehrer, wissen Sie? Und dann noch Zen: herrlich — diese wunderbar lehrreichen Geschichten, die einen zum Lachen bringen. Im Theravada gibt's ja diese ellenlangen Lehrreden, aber Zen besteht einfach aus witzigen Einzeilern."

Wir haben da also diesen großen, durcheinander wirbelnden Marktplatz spiritueller Ideen, mit seinen zahlreichen vollmundigen Behauptungen. Kein Wunder, dass viele von uns das verwirrend finden. Nun, die Kalamer waren damals genauso verwirrt wie wir. Sie suchten den Buddha auf, um seine Sicht der Dinge zu hören:

Da begaben sich die Kalamer aus Kesaputta zum Buddha. Bei ihrer Ankunft verbeugten sich einige von ihnen vor ihm und setzten sich an der Seite nieder. Einige von ihnen tauschten höfliche Begrüßungen mit ihm aus und setzten sich an der Seite nieder. Einige hoben die zusammengelegten Handflächen empor und setzten sich an der Seite nieder. Einge verkündeten ihren Namen und ihre Familie und setzten sich an der Seite nieder. Einige setzten sich schweigend an der Seite nieder. Als sie sich hingesetzt hatten, wandten sich die Kalamer an den Buddha: "Herr, da kommen manche Lehrer nach Kesaputta, die lehren und verherrlichen ihre eigenen Glaubenssätze. Aber die Glaubenssätze von Anderen, die beschimpfen sie, setzen sie herab, missbilligen sie und reißen sie in Stücke. Andere Lehrer, die nach Kesaputta kommen, tun das Gleiche. Wenn wir ihnen zuhören, verspüren wir Zweifel und Ungewissheit, welche dieser Lehrer Wahres sagen, und welche lügen."

Die Kalamer fühlten sich all diesen Ansprüchen, die ausschließliche Wahrheit zu besitzen, nicht gewachsen. Und als der Buddha eintraf, hatten sie, obwohl er im Ruf stand, ein großer Weiser zu sein, ihre Bedenken, dass er vielleicht doch nur ein weiterer Lehrer mit noch einer konkurrierenden Sichtweise sein könnte. Tatsächlich denke ich, dass ihre Skepsis sehr bewundernswert und eher ungewöhnlich ist. Die Menschheitsgeschichte zeigt, dass sich die Leute am meisten zu solchen Lehrern hingezogen fühlen, die ihnen starke und kompromisslose Aussagen anbieten. Gerne folgen wir denen, die sagen: "Das ist es, alle anderen haben unrecht." Gewiss können wir dieses Muster in der zeitgenössischen Politik erkennen, aber auch in spirituellen Kreisen wird damit Schindluder getrieben. Man fragt sich zu Recht: wollen wir wirklich Freiheit haben? Können wir mit der Verantwortung umgehen, die sie mit sich bringt? Oder ziehen wir es stattdessen vor, einen beeindruckenden Lehrer zu haben, jemanden, der uns alle Fragen beantwortet und uns die ganze harte Arbeit abnimmt? Leichtgläubigkeit gibt es selbstverständlich auch in buddhistischen Kreisen. Nach all den problematischen Vorkommnissen, die es in den vergangenen zwanzig Jahren in Dharma-Zentren gegeben hat, sehe ich immer noch Leute aus dem Westen, die ihren Verstand an der Tür abgeben, sich einem Lehrer zu Füßen werfen und betteln: "Sag mir, wie ich mein Leben führen soll." Nun, ich habe mich selbst einige Male täuschen lassen. Ich weiß nicht, wie es mit euch ist. Aber ich hatte es verdient. Ich wollte einfach nur meinen besonderen Lehrer haben, jemanden mit dem direkten Draht zur Wahrheit. Es fühlte sich einfach fantastisch an, von so jemandem der Schüler zu sein. Mein spirituelles Leben wurde für mich geregelt. Ich musste mich um nichts mehr kümmern. Ich war von der Verantwortung befreit, die man hat, wenn man sein Recht ausübt, Fragen zu stellen. Aber frei war ich natürlich nicht. Als der Buddha sich angehört hatte, was die Kalamer bewegte, sagte er:

"Kommt, ihr Kalamer. Geht nicht nach Hörensagen, nach Legenden, nach Überlieferungen, nach heiligen Schriften, nach logischen Vermutungen, nach Schlussfolgerungen, nach Analogien, nach Übereinstimmung mit euren eigenen Gesetzen, nach Wahrscheinlichkeiten oder nach dem Gedanken: 'Dieser Asket ist ja unser Lehrer'. Wenn ihr selber erkennt, dass 'diese geistigen Eigenschaften untauglich sind, diese geistigen Eigenschaften tadelnswert sind, diese geistigen Eigenschaften von Weisen gerügt werden, diese geistigen Eigenschaften, wenn man nach ihnen handelt, zu Schaden und Leiden führen', dann gebt sie auf. Wenn ihr selber erkennt, dass 'diese geistigen Eigenschaften tauglich sind, diese geistigen Eigenschaften tadellos sind, diese geistigen Eigenschaften von Weisen gepriesen werden, diese geistigen Eigenschaften, wenn man nach ihnen handelt, zu Wohlergehen und Glück führen', dann folgt ihnen weiterhin."

Aus China kommt eine lehrreiche Geschichte: Von überall her kamen die Leute, um sich die Dharma-Vorträge eines jungen Lehrers anzuhören. Offenbar besaß er eine gewisse Tiefe. Und eines Tages kam ein alter Meister, um ihn zu hören. Er saß ganz hinten im Meditationssaal, während der junge Lehrer einen Dharmavortrag hielt. Aber der junge Lehrer erkannte ihn und sagte aus Respekt, da er wusste, dass er ein berühmter Lehrer und außerdem viel älter war: "Bitte, komme doch hier herauf und sitze während meines Vortrags neben mir." Da erhob sich der alte Meister und setzte sich neben ihn. Der junge Lehrer nahm seinen Vortrag wieder auf, und jeder zweite Satz war ein Zitat aus einer anderen Sutte oder von diversen Zenmeistern. Der alte Meister fing an, vor aller Augen allmählich einzudösen. Der junge Lehrer sah das aus dem Augenwinkel, machte aber weiter. Je mehr Autoritäten er zitierte, desto schläfriger wurde der alte Meister. Schließlich hielt es der junge Lehrer nicht mehr aus und fragte: "Stimmt etwas nicht? Ist das, was ich sage, denn so fürchterlich langweilig, so vollkommen abwegig?" Da lehnte sich der alte Meister hinüber, kniff ihm mit voller Kraft in die Seite, und der junge Lehrer schrie auf: "Aua!" "Ah!", sagte der alte Meister. "Dafür habe ich den langen Weg auf mich genommen. Für diese reine Lehre. Diese 'Aua'-Lehre."

Wie der alte Meister in dieser Geschichte versucht der Buddha in seiner Antwort an die Kalamer die Wichtigkeit der unmittelbaren Erfahrung hervorzuheben. Ihm ist klar, dass Menschen auf viele unterschiedliche Arten von Autorität vertrauen, manchmal innere, manchmal äußere. Einige davon sind verlässlich, andere wieder völlig irreführend. Die Frage lautet: wie können wir herausfinden, was was ist? Wie wägen wir zwischen innerer Autorität und äußerer Autorität ab? Wie der Buddha sagt, ist etwas nicht schon deshalb richtig, weil es Tradition ist. Es ist nicht schon deshalb richtig, weil es modern ist. Es ist nicht schon deshalb richtig, weil es in einer heiligen Schrift steht. Und selbst dann, wenn es vernünftig erscheint, oder weil man die Person schätzt, die es lehrt, bedeutet das immer noch nicht, dass es richtig ist.

Was bleibt da noch? Wohin sollen wir uns als Autorität wenden, wenn es um das Wissen geht, wie zu handeln ist? Der Buddha sagt im Kalama-Sutta keineswegs, dass überlieferte Lehren ohne Belang seien, oder dass man mit jedem seiner Gedanken das Dharmarad neu erfinden müsse. Er sagt nicht, dass man sich nicht der Führung durch einen Lehrer anvertrauen solle, oder dass man nicht lesen solle, was in heiligen Schriften steht. Wie soll man denn sonst herausfinden, was von Verständigen getadelt und was gepriesen wird? Nein, was er wirklich sagt, ist: Verlasst euch auf diese Lehren nicht als endgültige Autorität. Verlasst euch auch auf eure eigenen Vorstellungen nicht als endgültige Autorität. Man muss das, was man von einem Lehrer hört, aber auch die eigenen Vorstellungen, in der Werkstatt des eigenen Handelns auf die Probe stellen.

Wenn ihr etwas auf die Probe stellt, wirklich auf die Probe stellt, stellt ihr dann nicht ebenfalls fest, dass es auch euch selbst an eure Grenzen führt? Das ist gewiss meine Erfahrung gewesen. Einige dieser wunderbaren Lehren sind inspirierend. Es kann intellektuell befriedigend und emotional erhebend sein, sie einfach nur zu hören. Aber dabei soll man nicht stehen bleiben. Wenn man einen wirklichen Nutzen daraus ziehen will, muss man ihnen gestatten, die eigene gelebte Erfahrung bis an die Grenzen zu beanspruchen. Denn damit die Buddhalehre zu Erkenntnis aus erster Hand wird — um ihr "Aua" zu spüren — muss man in enger Tuchfühlung mit ihr leben, man muss sie zur eingehenden Prüfung ans Licht halten, und man muss sich in ihrem Licht selbst einer eingehenden Prüfung unterziehen. Am Ende wird der Ball immer zu einem zurückgespielt: "Seid euch selber ein Licht", sagt der Buddha. Anders gesagt, man muss letzten Endes den Weg selber finden, indem man seine eigenen Vorstellungen auf die Probe stellt. Die eigenen Fragen erhellen den Weg.

Was ist also der Prüfstein für die Wahrheit? Der Buddha bietet ein einfaches Verfahren an: überprüft die Dinge anhand von Ursache und Wirkung. Was sich als nachteilig herausstellt, was zu Schaden und Übel führt, soll aufgegeben werden; was sich als förderlich erweist, was zu Glück und Frieden führt, soll beibehalten werden. Unterzieht alle Lehren in eurem Handeln der Prüfung darauf, ob sie förderlich sind. Wohin führt euch eine bestimmte Lehre? Führt sie euch in die Richtung zu mehr Weisheit und Güte? Aber eine kurze Prüfung reicht nicht aus, wisst ihr. Man muss dabeibleiben und es immer wieder tun, damit das Gespür für die Folgen des eigenen Handelns mit zunehmender Übung immer feiner wird. Wenn man die harte Arbeit, diese Fragen zu stellen, getan hat, dann kann man selbst entscheiden, ob es ein Lehrer oder seine Lehre wert ist, ihm zu folgen. Und gleichzeitig hat man damit sich selbst beigebracht, wie man leben soll — ein Lernen, das Freude mit sich bringen kann, und den Willen, noch tiefer zu dringen.