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'Kein Selbst' oder 'Nicht-Selbst'?
von
Thanissaro Bhikkhu
Übersetzung ins Deutsche von: (Info)
BGM-Studiengruppe
Alternative Übersetzung: noch keine vorhanden
Alternative Übersetzung: jb für ZzE
Alternative Formate: [book icon] Ein Druckversion finden sie in dem Buch: Edle Strategie. [PDF icon] Um eine gedruckte Version diese Buches zu erbitten, schreiben sie bitte an: Buddhistischen Gemeinschaft München oder direkt per email: Email an BGM e.V.

Einer der ersten Stolpersteine, auf den Leute aus dem Westen bei ihrer ersten Begegnung mit dem Buddhismus häufig stoßen, ist die Anatta-Lehre, oft als Aussage formuliert, es gäbe kein Ich oder Selbst. Zwei Gründe machen diese Lehre zum Stolperstein. Erstens passt die Vorstellung, es gäbe kein Selbst, nicht gut zu anderen buddhistischen Lehren, wie die über Kamma und Wiedergeburt: wenn es kein Selbst gibt, was erfährt dann das aus unseren Taten herrührende Kamma und was wird dann überhaupt wiedergeboren? Zweitens passt sie auch nicht gut zu unserem jüdisch-christlichen kulturellen Hintergrund, welcher die Existenz einer ewigen Seele bzw. eines Selbst als Grundannahme beinhaltet: wenn es kein Selbst gibt, was ist dann der Sinn des spirituellen Lebens? Viele Bücher versuchen, diese Fragen zu beantworten, aber wenn man sich den Pali-Kanon anschaut — die älteste überkommene Aufzeichnung der Lehren Buddhas —, so findet man sie darin überhaupt nicht angesprochen. Tatsächlich gibt es eine Stelle, wo der Buddha rundheraus gefragt wurde, ob es ein Selbst gäbe oder nicht, und er weigerte sich, darauf zu antworten. Als er später gefragt wurde, warum, erklärte er, dass sowohl die Meinung zu vertreten, es gäbe ein Selbst, als auch, es gäbe kein Selbst, bedeuten würde, in extreme Formen falscher Ansicht zu verfallen, welche den buddhistischen Übungsweg unmöglich machen würde. Folglich sollte die Frage beiseite gelassen werden. Um zu verstehen, was sein Schweigen über die Frage nach der Bedeutung von Anatta aussagt, müssen wir zunächst betrachten, was er darüber lehrte, wie Fragen gestellt und beantwortet werden sollen, und wie man seine Antworten zu interpretieren habe.

Der Buddha teilte alle Fragen in vier Klassen ein: solche, auf die eine kategorische (klare Ja/Nein-) Antwort richtig ist; solche, auf die eine analytische Antwort richtig ist, bei der man die zur Frage gehörenden Begriffe genau definieren und eingrenzen muss; solche, auf die eine Gegenfrage richtig ist, so dass der Fragesteller wieder am Zuge ist; und solche, bei denen es richtig ist, sie beiseite zu lassen. Die letztgenannte Art von Fragen sind solche, die nicht zum Ende von Leiden und Unbehagen führen. Die erste Aufgabe eines Lehrers, dem eine Frage gestellt wird, ist es, herauszufinden, welcher Klasse sie angehört, und dann in der angemessenen Weise darauf zu antworten. Zum Beispiel beantwortet man eine Frage, die beiseite gelassen werden sollte, nicht mit Ja oder Nein. Wenn man nun selbst der Fragesteller ist und eine Antwort erhält, so soll man daraufhin bestimmen, inwieweit die Antwort zu interpretieren ist. Der Buddha sagte, es gäbe zwei Arten von Leuten, die seine Aussagen falsch darstellten: solche, die Folgerungen aus Aussagen zögen, aus denen man keine Schlüsse ziehen sollte, und solche die keine Schlüsse aus solchen zögen, bei denen man es sollte.

Das sind die grundlegenden Regeln für die Interpretation der Lehren des Buddha, aber wenn wir uns ansehen, wie die meisten Autoren die Anatta-Lehre behandeln, dann stellen wir fest, dass sie diese Grundregeln ignorieren. Einige Autoren versuchen, die Interpretation, es gäbe kein Selbst, so zu ergänzen, dass sie behaupten, der Buddha hätte die Existenz eines ewigen Selbst oder eines isolierten Selbst geleugnet, aber das bedeutet ja, eine analytische Antwort auf eine Frage zu geben, von welcher der Buddha gezeigt hat, dass sie beiseite zu lassen ist. Andere versuchen, Schlüsse aus den wenigen Stellen in den Lehrreden zu ziehen, die darauf hinzudeuten scheinen, dass es kein Selbst gibt, aber man darf wohl annehmen, wenn man diese Aussagen so hinbiegt, dass sie eine Antwort auf eine Frage geben sollen, die beiseite zu lassen ist, dass dies heißt, Folgerungen dort zu ziehen, wo man dies nicht tun sollte.

Anstatt also "Nein" auf die Frage zu antworten, ob es ein Selbst gäbe oder nicht — alles verbindend oder isoliert, ewig oder nicht —, hat der Buddha gemeint, die Frage sei überhaupt unangebracht. Warum? Ganz gleich, wie man die Trennlinie zwischen dem "Selbst" und dem "Anderen" zieht, beinhaltet das Konzept eines Selbst ein Element von Selbstidentifikation und des daran Festhaltens, und damit wiederum von Leiden und Unbehagen. Das gilt gleichermaßen für ein alles verbindendes Selbst, das kein "Anderes" kennt, als auch für ein isoliertes Selbst. Wenn man sich mit der gesamten Natur identifiziert, schmerzt einen jeder gefällte Baum. Dies würde sogar für ein vollkommen "anderes" Universum gelten, in welchem das Gefühl der Selbstentfremdung und Sinnlosigkeit so geistig verkrüppelnd wirken würde, dass es das Streben nach Glückseligkeit — für einen selbst oder für andere — unmöglich machen würde. Deshalb riet der Buddha davon ab, sich mit Fragen wie "Bin ich denn?" oder "Bin ich etwa nicht?" abzugeben, denn wie immer man sie auch beantwortet, führen sie zu Leiden und Unbehagen.

Um das Leiden zu vermeiden, das in Fragen von "Selbst" und "Anderem" steckt, hat er eine Alternative zur Unterscheidung des Erlebten angeboten: die vier Edlen Wahrheiten von leidhafter Anspannung, ihrer Ursache, ihrer Aufhebung und vom Weg zu ihrer Aufhebung. Statt diese Wahrheiten als auf das Selbst oder Anderes bezogen anzusehen, so sagte er, soll man sie einfach so nehmen, wie sie an und für sich sind, wie sie unmittelbar erlebt werden, und dann die ihnen jeweils angemessene Aufgabe erledigen. Leidhafte Anspannung soll verstanden, ihre Ursache aufgegeben, ihre Aufhebung verwirklicht und der Weg zu ihrer Aufhebung entwickelt werden. Diese Aufgaben bilden den Kontext, in dem man die Anatta-Lehre am besten versteht. Indem man den Weg der Tugend, der Sammlung und des Klarblicks bis zu einem Zustand ruhigen Wohlseins entwickelt und dann diese innere Ruhe nutzt, um das Erlebte im Licht der vier Edlen Wahrheiten anzuschauen, dann erheben sich für den Geist nicht Fragen wie "Gibt es ein Selbst? Was ist mein Selbst?", sondern vielmehr "Ist das Festhalten an dieser bestimmten Erscheinung mit leidhafter Anspannung verbunden? Macht mich das wirklich aus, gehört es mir oder zu mir? Wenn es mit leidhafter Anspannung einhergeht, aber nicht wirklich mich selbst ausmacht oder zu mir gehört, warum dann daran festhalten?" Diese zuletzt genannten Fragen verdienen es, ohne Umschweife beantwortet zu werden, denn sie helfen, leidhafte Anspannung zu verstehen und vom Festhalten und Anklammern — dem Rest dessen, was an Vorstellung der Selbstidentifikation noch da ist — Stück für Stück abzuspalten, bis am Ende alle Spuren von Selbstidentifikation verschwunden sind und nur eine schrankenlose Freiheit übrigbleibt.

In diesem Sinne verstanden, ist die Anatta-Lehre nicht eine "Kein Selbst"-Doktrin, sondern eine Nicht-Selbst-Strategie, um Leiden durch Loslassen seiner Ursache aufzulösen, die zur höchsten, unzerstörbaren Glückseligkeit führt. An diesem Punkt fallen Fragen zu Selbst, Kein-Selbst oder Nicht-Selbst einfach weg. Sobald eine solche völlige Freiheit erlebt wird, warum sollte man sich dann noch darum bekümmern, was es erlebt oder ob es gar ein Selbst ist oder keines?