Was genau ist vipassana?
Fast jedes Buch über frühbuddhistische Meditation wird euch sagen, dass der Buddha zwei Arten von Meditation lehrte: Samatha und vipassana. Samatha, was Beruhigung bedeutet, wird als Methode bezeichnet, um starke Zustände mentaler Vertiefung zu pflegen, die jhana genannt werden. Von Vipassana – wörtlich „klar sehen“ (häufiger als Einsichtsmeditation übersetzt) wird gesagt, es sei eine Methode, bei der ein Minimum an Beruhigung genutzt wird, um momentane Achtsamkeit auf die Unbeständigkeit der Ereignisse zu fördern, die in der Gegenwart direkt erfahren werden. Diese Achtsamkeit erzeugt ein Gefühl der Leidenschaftslosigkeit gegenüber allen Ereignissen und führt so den Geist zur Leidensfreiheit. Diese beiden Methoden sind, so sagt man uns, sehr unterschiedlich und von den Beiden ist vipassana der kennzeichnend buddhistische Beitrag zum meditativen Wissen. Andere Praxissysteme, die aus der Zeit vor Buddha stammen, lehrten ebenfalls samatha, der Buddha jedoch war der Erste, der vipassana entdeckte und lehrte. Obwohl manche buddhistische Meditierende vielleicht Samatha-Meditation praktizieren, ehe sie sich dem vipassana zuwenden, ist samatha-Praxis nicht wirklich notwendig beim Streben nach Erwachen. Als meditatives Werkzeug ist die vipassana-Methode ausreichend, um das Ziel zu erreichen. So sagt man uns.
Wenn ihr euch aber die Pali-Lehrreden selbst anseht – die frühesten existierenden Quellen unseres Wissens von den Lehren des Buddha – so werdet ihr feststellen, dass dort, obwohl das Wort samatha in der Bedeutung von Ruhe und vipassana mit der Bedeutung „klar sehen“ Anwendung findet, ansonsten aber keine der „Weisheiten“ über diese Ausdrücke bestätigt wird. Das Wort vipassana wird, in scharfem Kontrast zur ständigen Verwendung des Wortes jhana, selten benutzt. Wenn beschrieben wird, wie der Buddha seine Schüler zur Meditation anleitete, so wird er nie zitiert, dass er sagt „Geht und übt vipassana“, sondern immer mit „Geht und übt jhana“. Und das Wort wird niemals mit irgendwelchen Achtsamkeitstechniken in Verbindung gebracht. Bei den wenigen Anlässen, zu welchen die Schriften vipassana erwähnen, bringen sie es fast immer zusammen mit samatha - aber nicht als zwei alternative Methoden, sondern als zwei Qualitäten des Geistes, die jemand „erlangen“ kann oder mit denen er „ausgestattet“ ist und die zusammen entwickelt werden sollten. In einem Gleichnis (SN 35.204) werden samatha und vipassana z.B. mit einem Paar schneller Boten verglichen, die über den Edlen Achtfachen Pfad in die Zitadelle des Körpers eintreten und dem Bewusstsein, das als Kommandeur der Zitadelle agiert, ihren genauen Bericht von der Befreiung oder dem Nirvana präsentieren. Eine andere Passage (AN 10.71) empfiehlt, dass ein jeder, der den geistigen Befleckungen ein Ende zu machen wünscht, zusätzlich zur Perfektionierung der Prinzipien moralischen Verhaltens und zur Pflege der Abgeschiedenheit, sich ganz dem samatha widmen und über vipassana verfügen sollte. Diese letzte Feststellung ist an und für sich nicht bemerkenswert, aber dieselbe Rede gibt den gleichen Rat auch jedem, der die jhana meistern möchte: Samatha üben und vipassana erlangen. Das lässt darauf schließen, dass in den Augenderer, welche die Pali-Reden zusammenstellten, samatha, jhana und vipassana alles Teile eines einzigen Pfades waren. Samatha und vipassana wurden zusammen gebracht, um jhana zu meistern und wurden dann, auf jhana basierend, sogar noch weiter entwickelt, um das Ende geistiger Befleckung und die Befreiung von allem Leid zu erzielen. Diese Deutung wird auch durch andere Reden gestützt.
Es gibt eine Passage (AN 4.170), die drei Arten beschreibt, auf welche samatha und vipassana zusammenarbeiten können, um zum Wissen des Erwachens zu führen: Entweder geht samatha vipassana voraus, oder aber vipassana geht samatha voraus oder aber beide entwickeln sich “zum Paar verbunden“. Diese Wortwahl ruft das Bild zweier Ochsen hervor, die zusammen einen Karren ziehen: Einer wird vor den anderen gespannt oder aber sie sind Seite an Seite angejocht. Eine andere Passage (AN 4.94) besagt, dass, wenn samatha dem vipassana vorangeht – oder vipassana dem samatha – die Übung in einem Zustand des Ungleichgewichts ist und korrigiert werden muss. Ein Meditierender, der zwar ein gewisses Maß an samatha erreicht hat, aber „kein vipassana in Vorgänge, die auf erhöhtem Unterscheidungsvermögen basieren (adhipañña-dhamma-vipassana), der sollte jemand befragen, der vipassana erlangt hat: „Wie sollten Gestaltungen (sankhara) betrachtet werden? Wie sollten sie untersucht werden? Wie sollten sie mit Einsicht gesehen werden?“. Dann ist gemäß den Anweisungen dieser Person vipassana zu entwickeln. Die Worte in diesen Fragen – „betrachten, untersuchen, sehen“ – zeigen, dass hinter dem Prozess der Entwicklung von vipassana mehr verborgen ist als nur eine einfache Achtsamkeitstechnik. Tatsächlich beinhalten diese Worte, wie wir noch sehen werden, stattdessen einen Prozess der geschickten Fragestellung, der als „gründliches, weises Erwägen“ bezeichnet wird.
Im gegenteilige Fall – im Fall eines Meditierenden mit vipassana in Vorgänge, die auf erhöhtem Unterscheidungsvermögen basieren, aber ohne samatha – sollte er jemanden befragen, der samatha bereits erlangt hat: „Wie kann ich meinen Geist festigen? Wie kann ich ihn dazu bringen, zur Ruhe zu kommen? Wie kann ich ihn einigen? Wie kann ich ihn konzentrierter werden lassen?“ Dann sollte er den Anweisungen dieser Person folgen um so samatha zu entwickeln. Die gewählten Worte vermitteln den Eindruck, dass „samatha“ in diesem Kontext jhana bedeutet, denn sie entsprechen der Standardformel der Pali-Lehrreden, um das Erlangen von jhana zu beschreiben. Dieser Eindruck wird noch verstärkt, wenn wir bemerken, dass in jedem Fall, in dem die Schriften ausdrücklich von den notwendigen Konzentrationsebenen sprechen, die zur Erlangung befreiender Einsicht benötigt werden, diese Ebenen die jhana sind.
Sobald der Meditierende jedoch über samatha und vipassana verfügt, sollte er sich bemühen, diese heilsamen Qualitäten auf einem höheren Niveau zu festigen, um die geistigen Gärungsprozesse (asava - Sinnlichkeitstrieb, Daseinstrieb, Ansichtstrieb und Unwissenheitstrieb) zu beenden. Das entspricht dem Pfad von samatha und vipassana, die sich “zum Paar verbunden“ entwickeln. Eine Stelle in MN 149 beschreibt, wie dies geschehen kann. Man kennt und sieht die sechs Sinnesbereiche wie sie wirklich sind (gemeint sind hier die fünf Sinne plus Intellekt), ihre Objekte, das Bewusstsein in jedem Bereich, Kontakt in jedem Bereich und die Gesamtheit dessen, was bei diesem Kontakt als Lust, Schmerz, oder Abwesenheit von Lust und Schmerz erfahren wird. Man hält dieses Gewahrsein in einer solchen Weise aufrecht, dass man von allen Dingen unberührt bleibt, ohne anzuhaften, ohne Verwirrung, eingedenk ihrer Nachteile, dabei jegliches Begehren nach ihnen zurücklassend: Das ist vipassana. Gleichzeitig körperliche und geistige Störungen ablegen können, Kummer und Qualen beenden, sodass man in Körper und Geist einzig Wohlbehagen erfährt: Das ist samatha. Diese Praxis entwickelt nicht nur samatha und vipassana “zum Paar verbunden“, sondern sie bringt auch die 37 Flügel für das Erwachen — die das Erlangen von jhana einschliessen - bis zum Höhepunkt ihrer Entwicklung.
Der rechte Pfad ist also einer, auf dem vipassana und samatha ins Gleichgewicht gebracht werden, wobei eines das andere unterstützt und als Kontrollinstanz agiert. Vipassana hilft dabei, dass die Beruhigung nicht stagniert und dumpf wird. Samatha hilft, die Manifestationen der Abneigung wie etwa Übelkeit, Schwindel, Desorientierung oder einen black-out zu verhindern - Merkmale, die auftreten können, wenn der Geist gegen seinen Willen im gegenwärtigen Moment gefangen ist.
Aus dieser Beschreibung ist es offensichtlich, dass samatha und vipassana keine getrennten Übungswege sind, sondern stattdessen sich ergänzende Wege des Bezugs zur Gegenwart: Samatha liefert ein Gefühl des Wohlbefindens in der Gegenwart; vipassana einen klaren Blick auf die Ereignisse, wie sie tatsächlich geschehen. Es ist auch ersichtlich, warum diese zwei Qualitäten zusammenwirken müssen, um jhana zu meistern. Wie die Standardanleitung der Atemmeditation zeigt (MN 118), schließt eine solche Meisterschaft drei Dinge ein: Den Geist erfreuen, ihn konzentrieren und ihn schließlich befreien. Erfreuen bedeutet, in der Gegenwart ein Gefühl der Erfrischung und Befriedigung zu finden. Konzentrieren bedeutet, den Geist auf sein Objekt gerichtet zu halten, während befreien heißt, den Geist von den gröberen Faktoren einer niedrigeren Stufe der Konzentration frei zu machen und so auf eine höhere Stufe zu gelangen. Die beiden ersten Aktivitäten sind Funktionen von samatha, während die letzte eine Funktion von vipassana ist. Alle drei müssen zusammenwirken. Zum Beispiel wäre der Geist nicht fähig, seine Konzentration zu verfeinern, wenn es nur Konzentration und Erfreuen ohne Loslassen gäbe. Die Faktoren, die aufgegeben werden müssen, um den Geist von Stufe x auf Stufe y zu heben, gehören zu der Reihe von Faktoren, die den Geist überhaupt erst bis zu Stufe x gebracht haben (AN 9.34). Ohne die Fähigkeit, geistiges Geschehen in der Gegenwart klar zu sehen, gäbe es keinen Weg, um den Geist mit Geschick von den richtigen Faktoren zu befreien, die ihn auf einer niedrigeren Stufe der Konzentration halten und sich als Störfaktoren für eine höhere Stufe auswirken. Wenn andererseits diese Faktoren lediglich losgelassen werden, ohne die rechte Wertschätzung für die verbleibende Stille und ihre Beständigkeit, dann würde der Geist aus dem jhana-Zustand herausfallen. Samatha und vipassana müssen also zusammenarbeiten, um den Geist in kunstvoller Weise zur rechten Konzentration zu bringen.
Da ergibt sich die Frage: Wenn vipassana nur mit der Meisterung von jhana funktioniert und jhana gar nicht exklusiv buddhistisch ist, was ist dann das Buddhistische an vipassana? Die Antwort ist, dass vipassana an sich nicht exklusiv buddhistisch ist. Entschieden buddhistisch ist aber: (1) das Ausmaß, in welchem samatha und vipassana entwickelt werden; (2) die Art und Weise, in der sie entwickelt werden (d.h. im Zusammenhang mit den Fragestellungen die angewandt werden um sie zu fördern) und (3) die Art und Weise, wie samatha und vipassana mit einer Vielfalt meditativer Werkzeuge kombiniert werden, um den Geist zur vollständigen Befreiung zu verhelfen.
In M 73 rät der Buddha einem Mönch, der jhana bereits gemeistert hat, samatha und vipassana noch weiter zu entwickeln, um so sechs Geschicklichkeiten des Wissens zu meistern, wovon die Wichtigste sei, dass man durch das Beenden der geistigen Einflüsse in der triebfreien Befreiung des Gewahrseins und der Unterscheidung verbleibt, nachdem man sie Hier-und-Jetzt erkannt und verwirklicht hat. Das ist eine Beschreibung des buddhistischen Zieles. Einige Kommentatoren haben behauptet, dass diese Befreiung gänzlich eine Funktion von vipassana sei, aber es gibt Lehrreden, die darauf hinweisen, dass dem nicht so ist.
Beachtet, dass Befreiung zweifach ist: Befreiung des Gewahrseins und Befreiung der Unterscheidungsfähigkeit. Befreiung des Gewahrseins erfolgt, wenn ein Meditierender allen Leidenschaften gegenüber völlig leidenschaftslos wird: Dies ist die höchste Funktion von samatha. Befreiung der Unterscheidungsfähigkeit erfolgt, wenn es Leidenschaftslosigkeit gegenüber dem Nichtwissen gibt: Dies ist die höchste Funktion von vipassana. So sind also beide, sowohl samatha als auch vipassana, an der doppelten Natur dieser Befreiung beteiligt (AN 2.30)
In der Sabbasava Sutta (MN 2) wird gesagt, dass jemandes Befreiung nur dann „triebfrei“ sein kann, wenn er auf der Basis des „weisen Erwägens“ (yoniso manasikara) versteht und sieht. Wie uns diese Lehrrede zeigt, bedeutet weises Erwägen, die rechten Fragen bezüglich der Phänomene zu stellen und sie nicht in Begriffen von Selbst/Andere oder Sein/Nichtsein zu erwägen, sondern vielmehr hinsichtlich der Vier Edlen Wahrheiten. Anstatt also zu fragen: „Existiere ich? Existiere ich nicht? Was bin ich?“ fragt man auf ein Erleben bezogen: „Ist dies Stress? Ist dies der Ursprung von Stress? Ist dies das Ende von Stress? Ist dies der Pfad, der zum Ende von Stress führt?“ Weil jede dieser Kategorien eine Pflicht mit sich bringt, bestimmt die Antwort auf diese Fragen den Kurs des darauffolgenden Handelns: Stress sollte verstanden werden; seine Ursache sollte fallengelassen werden; sein Erlöschen sollte verwirklicht werden; und der Pfad zum Erlöschen sollte entwickelt werden.
Samatha und vipassana gehören zur Kategorie des Pfades und sollten also entwickelt werden. Um sie zu entwickeln, muss man bei der Aufgabe Stress zu verstehen, weises Erwägen einsetzen. Stress besteht aufgrund der fünf Aggregaten des Anhaftens; dem Haften an: körperlicher Form, dem Gefühl, der Wahrnehmung, dem geistigen Gestalten und dem Bewusstsein Diese Aggregate weise zu erwägen bedeutet, sie hinsichtlich ihrer Nachteile als „unbeständig, als Mühsal, als Krankheit, als Krebsgeschwür, als Stachel, als Schmerz, als Leiden, als etwas Fremdes, als in Auflösung begriffen, als etwas Leeres und als Nicht-Selbst“ zu betrachten (SN 22.122). Eine Reihe von Buddha selbst gestellten Fragen sind bei dieser Herangehensweise hilfreich: "Ist dieses Aggregat beständig oder unbeständig?"; "Ist etwas das unbeständig ist stressfrei oder stressig?"; "Ist es angebracht, etwas, das unbeständig, stressig und dem Wandel unterworfen als, "das ist mein", "das ist mein Selbst", "das ist, was ich bin" zu betrachten?". Diese Fragen sind für alle fünf Aggregate anzuwenden, seien sie nun „vergangen, künftig oder gegenwärtig; innerlich oder äußerlich; offensichtlich oder subtil; gewöhnlich oder erhaben, nah oder fern.“ (SN 22.59). Mit anderen Worten, der Meditierende, stellt diese Fragen bei allen Erfahrungen im Kosmos der sechs Sinnesbereiche.
Diese Fragensequenz ist Teil einer Strategie, die zu einer Ebene des Wissens führt, von der es heißt „die Dinge erkennen und sehen wie sie wirklich sind (yatha-bhuta-ñana-dassana). Dort werden die Dinge auf fünffache Weise verstanden; im Hinblick auf ihr Entstehen, ihr Vergehen, ihre Nachteile, ihre Verlockungen und hinsichtlich des Entkommens von ihnen, wobei das Entkommen hier in der Leidenschaftslosigkeit ihnen gegenüber besteht.
Einige Kommentatoren meinten nun, dass in der Praxis diese fünffache Perspektive erlangt werden kann, indem man die Achtsamkeit einfach auf das Entstehen und Vergehen dieser Aggregate im gegenwärtigen Moment ausrichtet; wenn man nur über einen unnachgiebig zielgerichteten Fokus verfügt, wird das auf natürliche Weise zu einer Kenntnis der Nachteile, der Verlockungen und dem Entkommen von ihnen führen und ausreichend für eine völlige Befreiung sein. Die Texte unterstützen diese Auslegung jedoch nicht und wie es scheint, bestätigt das auch die praktische Erfahrung. In M 101 wird darauf hingewiesen, dass einzelne Meditierende entdecken werden, dass sie in manchen Fällen Leidenschaftslosigkeit für einen bestimmten Fall von Stress entwickeln können, einfach nur indem sie ihn mit Gleichmut beobachten; in anderen Fällen aber wird es notwendig sein, eine bewusste Anstrengung zu unternehmen, um die Leidenschaftslosigkeit zu entwickeln, die dann ein Entkommen ermöglichen kann. Die Lehrrede darüber, welche Herangehensweise die effektivste ist, bleibt dabei vielleicht mit Absicht vage, weil es um etwas geht, das nur individuell von jedem Meditierenden in der Praxis herausgefunden werden kann.
Im Sabbasava Sutta befasst sich mit dieser Angelegenheit, indem sie sieben Herangehensweisen nennt, die bei der Entwicklung von Leidenschaftslosigkeit einzuschlagen sind. Vipassana als Qualität des Geistes steht mit allen sieben in Beziehung, aber am unmittelbarsten mit der „Sichtweise“. Alle Ereignisse werden dabei hinsichtlich der Vier Edlen Wahrheiten und der ihnen zugeordneten Pflichten betrachtet. Die verbleibenden sechs Herangehensweisen zeigen uns, wie diese Pflichten zu erfüllen sind. Dabei soll der Geist davon abgehalten werden, sich auf Sinnesreize einzulassen, die ungeschickte Geisteszustände hervorrufen würden. Außerdem muss über angemessene Gründe nachgedacht werden, die den Gebrauch der Notwendigkeiten, wie Nahrung, Kleidung, Unterkunft und Medizin erfordern. Schmerzhafte Empfindungen müssen ertragen und offenkundige Gefahren und unpassende Begleiter vermieden werden. Des Weiteren sollen alle Gedanken des sinnlichen Begehrens, des Übelwollens, der Grausamkeit und andere ungeschickte Zustände, ausgelöscht und stattdessen die sieben Faktoren des Erwachens entwickeln werden. Diese sieben Faktoren sind Achtsamkeit, Analyse der Qualitäten, Beharrlichkeit, Begeisterung, Ruhe, Konzentration und Gleichmut.
Jede dieser Herangehensweisen umfasst eine Vielzahl von Strategien. Unter „Auslöschen“, kann z.B. das Ersetzen eines unheilsamen geistigen Zustands durch einen heilsamen, fallen. Oder man betrachtet seine Nachteile, oder man wendet seine Aufmerksamkeit davon ab, oder man entspannt den Gedankenprozess der dazu geführt hat, oder man versucht ihn mit der Kraft des Willens zu unterdrücken (MN 20). Viele ähnliche Beispiele können auch aus anderen Reden entnommen werden. Das Wesentliche hierbei ist, dass die Wege des Geistes vielfältig und komplex sind. Verschiedenste Gärungsprozesse können in unterschiedlicher Verkleidung auftauchen und auf unterschiedliche Vorgehensweisen ansprechen. Die Geschicklichkeit des Meditierenden besteht darin, eine Vielfalt an Strategien zu meistern und die Empfindsamkeit dafür zu entwickeln, welche jeweilige Herangehensweise in welcher Situation am besten funktionieren wird.
Auf einer grundlegenderen Ebene jedoch benötigt man zunächst eine starke Motivation, um diese Geschicklichkeiten überhaupt meistern zu können. Da weises Erwägen aber erfordert, das Denken in den Gegensatzpaaren, "Sein- Nichtsein" – "Ich-Nicht-Ich", aufzugeben, die den Denkstrukturen aller Menschen zugrundeliegen, brauchen die Meditierenden gute Gründe dafür. Deshalb besteht die Sabbasava Sutta darauf, dass ein jeder, der weises Erwägen entwickelt, zuerst große Achtung und Wertschätzung für die Edlen (den Buddha und seine Schüler) besitzen muss. Mit anderen Worten, man muss erkennen, dass jene, die dem Pfad gefolgt sind, wahrlich vorbildhaft und nachahmenswert sind. Man sollte also mit ihren Lehren und ihrer Disziplin wohlvertraut sein. Laut MN 117, beginnt das „wohlvertraut mit ihren Lehren sein“ damit, ihre Lehren vom karma und der Wiedergeburt zu verinnerlichen, denn diese Überzeugung ergibt den intellektuellen und emotionalen Kontext dafür, die Vier Edlen Wahrheiten als die grundlegenden Kategorien der Erfahrung anzunehmen. Mit der Disziplin der Edlen wohlvertraut zu sein schließt auch, zusätzlich zur Einhaltung der Tugendregeln, ein gewisses Geschick bei den sieben Herangehensweisen zum Auslöschen der Triebe mit ein.
Ohne diesen Hintergrund könnten Meditierende, die Praxis des Beobachtens von Entstehen und Vergehen im gegenwärtigen Moment, mit falschen Einstellungen und Fragen in Angriff nehmen. Zum Beispiel könnten sie nach einem „wahren Selbst“ suchen und sich aufgrund dessen, bewusst oder unbewusst, mit dem weiten, offenen Gefühl des Gewahrseins identifizieren, das allen Wandel umschließt und von dem alles zu kommen und zu dem alles zurückzukehren scheint. Oder sie könnten sich nach einem Gefühl der Verbundenheit mit dem gewaltigen Zusammenspiel des Universums sehnen, in der Überzeugung, dass – da alle Dinge sich wandeln – jegliches Verlangen nach Unwandelbarkeit neurotisch und lebensverneinend ist. Für Menschen mit derartigen Bestrebungen wird die einfache Erfahrung des Entstehens und Vergehens der Dinge in der Gegenwart nicht zum fünffachen "Wissen und Sehen der Dinge wie sie wirklich sind", führen. Sie werden der Erkenntnis widerstreben, dass die Vorstellungen, an denen sie festhalten, lediglich ein Gärungsprozess der Ansichten sind oder dass die Erfahrungen der Ruhe, welche diese Ideen zu bestätigen scheinen, ebenfalls nur ein Gärungsprozess in der Form eines Daseinszustandes ist. Als Folge werden sie nicht willens sein, die Vier Edlen Wahrheiten auf diese Ideen und Erfahrungen anzuwenden. Nur jemand, der bereit ist, die Einflüsse als solche anzusehen und von der Notwendigkeit, sie zu transzendieren überzeugt ist, wird in der Lage sein, die Prinzipien weisen Erwägens auf sie anzuwenden und so über sie hinaus zu gelangen.
Um nun die Frage zu beantworten mit der wir begannen: Vipassana ist keine Meditations-Technik. Es ist eine Qualität des Geistes – die Fähigkeit, Ereignisse im gegenwärtigen Moment klar zu sehen. Obwohl Achtsamkeit bei der Förderung von vipassana hilfreich ist, so ist sie doch nicht ausreichend, um vipassana bis zum Punkt der vollkommenen Befreiung zu entwickeln. Andere Techniken und Herangehensweisen werden ebenfalls benötigt. Insbesondere ist es notwendig, vipassana mit samatha, der Fähigkeit den Geist in der Gegenwart zur Ruhe kommen zu lassen, zu verbinden, um so die tiefen Versenkungszustände, die jhana, zu meistern. Basierend auf dieser Meisterung werden dann samatha und vipassana in einem Programm geschickter Fragen, das als weises Erwägen bezeichnet wird, auf die Gesamtheit alle Erfahrungen angewandt. Jegliches Erleben, wird nun nicht in Bezug auf ein Ich bzw. Nicht-Ich oder ein Sein bzw. Nicht-Sein untersucht, sondern allein in Bezug auf die Vier Edlen Wahrheiten. Der Meditierende folgt diesem Programm, bis es ihn zu einem fünffachen Verständnis aller Ereignisse führt. Verständnis hinsichtlich ihres Entstehens, ihres Vergehens, ihrer Nachteile, ihrer Verlockungen sowie die der Art und Weise des Entkommens. Nur dann kann der Geist den Geschmack der Befreiung erfahren.
Dieses Programm zur Entwicklung von vipassana und samatha benötigt wiederum Unterstützung durch viele andere geistige Einstellungen, Qualitäten und Übungstechniken. Deshalb lehrte es der Buddha als Teil eines größeren Programms, das auch den Respekt für die Edlen, die Meisterung aller sieben Strategien zum Überwinden der Triebe (asava) und alle acht Faktoren des Edlen Pfades beinhaltet. Eine vereinfachende Herangehensweise an die Praxis kann nur verminderte Resultate ergeben, denn Meditation ist ebenso eine Kunst wie die Holzverarbeitung, welche die meisterliche Handhabung vieler Werkzeuge, den unterschiedlichen Erfordernissen entsprechend, verlangt. Uns bei der Meditation nur auf eine einzige Art des Vorgehens zu begrenzen, wäre so, als würden wir versuchen ein Haus zu bauen, obwohl unsere Motivation unklar ist und unsere Werkzeugkiste nichts als Hämmer enthält.