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Die Gegenwart entwirren
Die Rolle der passenden Aufmerksamkeit
von
Thanissaro Bhikkhu
Übersetzung ins Deutsche von: (Info)
Lothar Schenk
Alternative Übersetzung: noch keine vorhanden
Alternative Formate: [book icon] Ein Druckversion finden sie in dem Buch: Reinheit des Herzens.

Wären die Wege des Geistes einfach, wären seine Probleme auch einfach und leicht zu lösen. Als er zeigte, wie man den Problemen des Geistes ein Ende bereitet, hätte der Buddha seine Anweisungen einfach und kurz halten können — eine einzige, alles abdeckende Herangehensweise an alles, was auch immer in der Gegenwart geschieht, ein edler ein-facher Weg: einfach nur Achtsamkeit, einfach nur innere Sammlung, oder einfach nur nicht-reaktives Wahrnehmen. Oder er hätte, in dem Wissen, dass die Leute ihre Probleme leicht selbst lösen konnten, garnicht viel zu lehren brauchen. "Vertraut eurer angeborenen Natur, eurer angeborenen Weisheit", hätte er einfach sagen können und es dabei belassen. Aber so funktioniert der Geist eben nicht, und so lehrte er auch nicht.

Schon wenige Minuten, die man damit verbringt, zu beobachten, wie sich der Geist verhält, genügen um zu zeigen, wie komplex und verwickelt seine Wege sind. Das gilt insbesondere für das Problem des Leidens: wie der Buddha feststellte, sind die Ursachen des Leidens verschlungen und verwoben wie ein Vogelnest, verfilzt wie der Faden eines Garnknäuels.

Wie jeder weiß, der schon einmal ein komplexes Problem gelöst hat, besteht der Kunstgriff, um die Lösung zu finden, darin, wie man die Aufgabenstellung geschickt formuliert: wie man das eigentliche Problem identifiziert und das Muster der Einflussfaktoren anordnet. Hat man den Überblick über dieses Muster, kann man entscheiden, auf welche Faktoren man sich als ausschlaggebend für die Lösung konzentriert, und welche man besser ignoriert, um nicht in eine Sackgasse zu geraten. Die Aufgabenstellung richtig zu formulieren bedeutet auch, zu entscheiden, wie man an jeden der ausschlaggebenden Faktoren im Einzelnen herangeht, damit sie dazu beitragen, das Problem zu lösen und nicht etwa, es weiterbestehen oder gar schlimmer werden lassen. Letztlich läuft es darauf hinaus, dass man bei einem Problem, mit dem man konfrontiert ist, weiß, welche Fragen bei der Lösung weiterhelfen und welche nicht.

Wenn man zum Beispiel als Arzt in der Notaufnahme einem Patienten gegenübersteht, der über Schmerzen in der Brust klagt, muss man in kurzer Zeit viele Entscheidungen treffen. Man muss entscheiden, welche Untersuchungen durchgeführt werden sollen, welche Fragen man dem Patienten stellt und nach welchen körperlichen Symptomen man Ausschau hält, bevor man die Schmerzen als Anzeichen eines Verdauungsproblems, als einsetzenden Herzanfall oder als etwas ganz Anderes diagnostizieren kann. Man muss auch entscheiden, welche Fragen man nicht stellt, um sich durch belanglose Informationen nicht aufs Glatteis führen zu lassen. Wenn man sich auf die falschen Symptome konzentriert, kann der Patient möglicherweise sterben — oder muss vielleicht unnötigerweise eine Nacht auf der Intensivstation verbringen, so dass sein Bett für einen Patienten mit einem echten Herzanfall nicht mehr zur Verfügung steht. Hat man seine Diagnose gestellt, muss man entscheiden, welchen Behandlungsplan man verfolgen will und wie man die Behandlung überwachen wird, um zu sehen, ob sie tatsächlich wirkt. Wenn man die Symptome falsch einordnet, richtet man vielleicht mehr Schaden an als dass man Gutes bewirkt. Wenn man sie in den richtigen Zusammenhang stellt, kann man damit Leben retten.

Das gleiche Prinzip gilt auch beim Lösen des Leidensproblems, weshalb der Buddha der Fähigkeit, die Problemstellung beim Leiden auf die richtige Weise zu formulieren, oberste Wichtigkeit zuerkannte. Er nannte diese Fähigkeit yoniso manasikara — geeignete Aufmerksamkeit — und lehrte, dass keine andere innere Eigenschaft hilfreicher sei, um das Leiden zu entwirren und Befreiung zu erlangen (Iti 16).

Bei seiner ausführlichsten Erklärung der geeigneten Aufmerksamkeit (MN 2) beginnt er mit Beispielen für auf das Falsche gerichtete Aufmerksamkeit, bei der Fragen von Identität und Existenz im Mittelpunkt stehen: "Existiere ich?" "Oder etwa nicht?" "Was bin ich?" "Habe ich in der Vergangenheit existiert?" "Werde ich in Zukunft existieren?" Diese Fragen sind ungeeignet, weil sie zu "einem Wildwuchs von Ansichten, einem Dornengestrüpp von Ansichten" führen, wie etwa "ich habe ein Selbst" oder "ich habe kein Selbst", von denen alle zu Verstrickung führen und keine zum Ende des Leidens.

m Gegensatz dazu schildert der Buddha dann geeignete Aufmerksamkeit als die Fähigkeit, genau zu erkennen: "Das ist Leiden" (wobei das Pali-Wort dukkha auch jede Art von Unbehagen und Schmerz mit umfasst), "das ist das Entstehen von Leiden", "das ist das Aufhören von Leiden" und "das ist der Übungsweg der zum Aufhören von Leiden führt". Das sind jene vier Kategorien, die der Buddha in seiner ersten Rede als die vier edlen Wahrheiten bezeichnete. Die Fähigkeit, das Leidensproblem gemäß diesen Kategorien aufzufassen, befähigt einen letzten Endes dazu, dem Leidensproblem ein für alle Mal ein Ende zu bereiten. Deshalb sind sie geeignet.

Die am meisten ins Auge springende Lehre, die sich aus dieser Unterscheidung von geeigneter und ungeeigneter Aufmerksamkeit ziehen lässt, ist die, dass ungeeignete Aufmerksamkeit die Probleme des Geistes in abstrakten Kategorien formuliert, während geeignete Aufmerksamkeit sie nach solchen Dingen ordnet, auf die man in der unmittelbaren Erfahrung direkt als "das ... das ... das ... das" zeigen kann. Begrifflichkeiten wie Identität und Sein liegen dem abstrakten Denken zugrunde, und viele Philosophen haben sogar behauptet, dass sie jedem spirituellen Streben zugrunde lägen. Der Buddha hingegen entdeckte, dass der Gedanke "ich bin der Denker" die Wurzel aller jener Kategorien und Benennungen darstellt, welche der konzeptionellen Verwicklung zugrunde liegen, einer Denkweise, die sich umkehren und die Person, die sie verwendet, angreifen kann. Diese Kategorien sind notorisch schwer zu fassen und lösen sich oft in semantischer Beliebigkeit auf. "Existiere ich?" — das hängt davon ab, was man unter "existieren" versteht. "Habe ich ein Selbst?" — das hängt davon ab, was man unter "Selbst" versteht. Eine von solchen Definitionen getriebene Denkweise fällt oft den verborgenen Motiven und Zielstellungen hinter den Definitionen zum Opfer, was bedeutet, dass sie nicht verlässlich ist.

Leiden hingegen ist etwas direkt Erfahrbares: vorsprachlich, privat, aber universell. Indem er bei den Problemen des Geistes das Leiden in den Mittelpunkt stellt, gründet der Buddha mit seinen Lehren auf eine vollkommen vertrauenswürdige Absicht — den Wunsch, dass seine Zuhörer all ihrem Leiden ein Ende bereiten mögen — und richtet das Augenmerk auf eine nicht von Definitionen abhängige Sache. Tatsächlich gibt er überhaupt nie eine Definition des Begriffs "Leiden". Stattdessen veranschaulicht er es mit Beispielen — wie etwa dem Leiden von Geburt, Altern, Krankheit und Tod — und weist dann auf dasjenige funktionelle Element hin, das allen Arten geistigen Leidens gemeinsam ist: das Anhangen an den fünf Daseinsgruppen Form, Empfindung, Wahrnehmung, geistige Gestaltung und Bewusstsein. Das Anhangen ist nicht die Gesamtheit des Leidens, aber wenn man beabsichtigt, das Leiden zu beenden, ist es derjenige Aspekt des Leidens, auf den man mit dem größten Nutzen das Augenmerk richtet.

Obwohl es eine Textstelle gibt, an welcher der Buddha das Anhangen definiert als Begehrenslust (SN 22.121), gibt er nirgendwo eine klare Beschreibung davon, was Begehrenslust ist. Im offenbar ältesten Teil des Kanon, dem Atthaka-Vagga (Sn 4), füllt er eine lange Erörterung des Begehrens mit Doppeldeutigkeiten und Wortspielen aus, eine Darstellungsweise, die systematischen, fixen Definitionen und dem sich daraus ergebenden konzeptionellen Wildwuchs eine Absage erteilt. Das bedeutet, dass einem das Festhalten an Wortbedeutungen und Textpassagen nicht weiterhelfen wird, wenn man sein Verständnis von Anhangen, Begehrenslust und Leiden verbessern will. Man muss stattdessen einen tieferen Blick auf das eigene gegenwärtige Erleben werfen.

Indem er wiederholt auf die unmittelbare Erfahrung verweist, erteilt der Buddha jedoch keineswegs allen Gedanken und Begriffen eine Absage. Zur Unterscheidung der vier Kategorien der geeigneten Aufmerksamkeit benötigt man Denken und gedankliches Untersuchen — jene Art von Denken, das in seinem Fragen über Verständnis und Missverständnis hinausgeht und das, was in der Gegenwart geschieht, eingehend untersucht; jene Art von gedanklichem Untersuchen, das schwer zugängliche Zusammenhänge zwischen Handlungen und deren Folgen herausfiltern und danach bewerten kann, ob sie hilfreich sind oder nicht. Es gibt zum Beispiel Spielarten des Begehrens, die als Ursache von Leiden fungieren, und wieder andere, die einen Teil des Wegs zu seinem Ende bilden können. Obwohl der Buddha in groben Zügen skizziert, wie man erkennt, welche Art von Begehren welche Funktion erfüllt, muss man selber lernen, wie man sorgfältig und aufrichtig über seine eigenen Absichten wacht, um auseinanderhalten zu können, um welche Art von Begehren es sich dabei jeweils handelt.

Indem man fortwährend die Gegenwart im Rahmen dieser vier Kategorien untersucht, vollzieht man die Schritte nach, mit denen sich der Buddha dem Erwachen annäherte. Nachdem er das Anhangen als funktionelle Handhabe gegenüber dem Leiden in den Mittelpunkt gestellt hatte, hielt er Ausschau nach den Bedingungen, die ihm zugrunde liegen, und fand sie in drei Arten von Begehren oder Durst: sinnliches Begehren, Begehren nach Seinszuständen und Begehren danach, Seinszustände zu vernichten. Dann identifizierte er das Aufhören von Leiden als völlige Leidenschaftslosigkeit für, Aufhören von und Befreiung von diesen Formen des Begehrens. Und er identifizierte die geistigen Eigenschaften und Vorgehensweisen, die zu diesem Aufhören führen — rechte Ansicht, rechter Entschluss, rechte Rede, rechtes Handeln, rechte Lebensführung, rechte Anstrengung, rechte Achtsamkeit und rechte Sammlung —, die alle in ihrer potenziellen Form in der Gegenwart zu finden sind.

Anstatt uns also die Gegenwart einfach als monolithisches Ganzes hinzuwerfen, richtet der Buddha unsere Aufmerksamkeit auf vier wesentliche Dinge, die wir dort finden können. Das kommt daher, weil die Veränderungen, die wir von Augenblick zu Augenblick erleben, einem Muster unterliegen. Der Wandel ist nie derart wahllos oder abrupt, dass in der Vergangenheit gewonnenes Wissen in der Gegenwart nutzlos wäre. Wenn Konzepten auch die Frische des Unmittelbaren fehlen mag, so erfüllen sie doch einen wichtigen Zweck. Wenn man den Finger ins Feuer hält, verbrennt man sich. Wenn man gegen den Wind spuckt, kommt die Spucke zu einem zurück. Es ist gut, solche lehrreichen Erfahrungen im Gedächtnis zu behalten. Obwohl die Muster, die dem Leiden zugrunde liegen, verwickelter sein mögen als die von Feuer und Wind, so sind es dennoch Muster. Man kann sie lernen und meistern, und die vier Kategorien der geeigneten Aufmerksamkeit sind ausschlaggebend dafür, um eine Handhabe für den Umgang mit diesen Mustern zu bekommen und sie auf das Ende des Leidens zu richten.

Praktisch gesehen, lohnt es sich nur dann, zwischen mehreren Kategorien zu unterscheiden, wenn man jede dieser Kategorien unterschiedlich behandeln muss. Wenn zum Beispiel ein Arzt eine Theorie über sechzehn verschiedene Arten von Kopfweh aufstellt, nur um sie dann doch alle mit Aspirin zu behandeln, dann verschwendet er seine Zeit. Aber jemand, der die Beobachtung macht, dass verschiedene Arten von Kopfweh auf unterschiedliche medikamentöse Behandlungen ansprechen, und dann ein genaues Testverfahren entwickelt, mit dem zwischen diesen Arten von Kopfweh unterschieden werden kann, der leistet einen echten Beitrag zur ärztlichen Wissenschaft. Das gleiche Prinzip gilt für die Kategorien der geeigneten Aufmerksamkeit. Wie der Buddha in seinem ersten Bericht über sein Erwachen feststellte, erkannte er, nachdem er die vier Kategorien als solche identifiziert hatte, dass jede von ihnen unterschiedlich zu behandeln war. Leiden war zu begreifen, seine Ursache aufzugeben, sein Aufhören zu verwirklichen und der Weg zu seinem Aufhören vollständig zur Entfaltung zu bringen.

Das bedeutet, dass man als Meditierender nicht alles, was im gegenwärtigen Augenblick vor sich geht, gleich behandeln darf. Man soll nicht einfach nicht-reaktiv bleiben oder einfach alles akzeptieren, was kommt. Wenn Augenblicke von Stille und Wohlergehen im Gemüt auftauchen, registriert man sie nicht einfach und lässt sie vorbeiziehen. Man soll lernen, sie zu jhana weiterzuentwickeln — ein den ganzen Körper ausfüllendes Gefühl der Freude und des Entzückens, das aus rechter Sammlung, dem Herzstück des Weges, entsteht. Wenn geistiges Leiden auftaucht, lässt man es nicht einfach gehen. Man sollte alle Kräfte der inneren Sammlung und des weisen Einsichtsvermögens darauf richten, die einem zur Verfügung stehen, um so gut es geht das Anhangen zu begreifen, das ihm zugrunde liegt.

Der Buddha und seine Schüler führen diesen Punkt in Lehrreden näher aus, in denen sie zeigen, wie man geeignete Aufmerksamkeit auf verschiedene Aspekte der Gegenwart richten soll. Auf die fünf Daseinsgruppen Form, Empfindung usw. gerichtet, bedeutet geeignete Aufmerksamkeit, dass man sie so betrachtet, dass sich ein Gefühl der Ernüchterung erhebt, das dabei hilft, Anhangen zu mindern (SN 22.122). Auf Eindrücke wie Schönheit oder Gereiztheit gerichtet, bedeutet es, sie so zu betrachten, dass sie keine Hindernisse für die rechte Sammlung, wie etwa sinnliches Begehren oder Übelwollen, hervorbringen können. Auf Gefühle von Gelassenheit oder aufkeimendem Entzücken bezogen, bedeutet es, sie so zu betrachten, dass sie zu Faktoren für das Erwachen, den sogenannten Erwachungsgliedern, werden können (SN 46.51).

Selbst innerhalb einer bestimmten Kategorie gibt es keine Herangehensweise, die in jedem Fall funktioniert. In einer seiner Lehrreden bemerkt der Buddha, dass manche untauglichen Gemütszustände verschwinden, wenn man sie einfach nur mit Gleichmut betrachtet, während es bei anderen einer aktiven Anstrengung bedarf, um sie auseinanderzunehmen (MN 101). In einer anderen Lehrrede führt er diese Beobachtung näher aus, indem er fünf Vorgehensweisen für den Umgang mit ablenkenden Gedanken empfiehlt: sie durch einen tauglicheren Gedanken ersetzen, ihre Nachteile ins Rampenlicht rücken, sie bewusst ignorieren, die Spannung lockern, die zu ihrer Aufrechterhaltung dient, und sie gewaltsam unterdrücken (MN 20). In keiner der beiden Lehrreden gibt er allerdings feste, schematische Regeln an, anhand derer sich sagen ließe, welche Art von Gedanken auf welche Vorgehensweise anspricht. Das gilt es selbst herauszufinden, indem man mittels Versuch und Irrtum sein Einsichtsvermögen soweit schärft, dass man allmählich ein Gespür dafür entwickelt, was in einer gegebenen Situation funktioniert und was nicht.

Das gleiche Prinzip gilt für taugliche Gemütszustände. In der endgültigen Zusammenfassung seiner Lehren, den Schwingen des Erwachens, gibt der Buddha sieben Möglichkeiten an, wie man den Weg zum Ende des Leidens begrifflich einordnen kann — als vier Bezugspunkte der Achtsamkeit, vier Erfolgsgrundlagen, vier rechte Anstrengungen, fünf Kräfte, fünf Fähigkeiten, sieben Faktoren des Erwachens und als edler achtfacher Weg. Und wiederum ist es an uns, durch Versuch und Irrtum herauszufinden, welche Art der begrifflichen Einordnung an der Stelle der Übungspraxis, an der wir uns zu einer bestimmten Zeit befinden, am nützlichsten ist.

Das bedeutet, dass das Anwenden von geeigneter Aufmerksamkeit auf taugliche und untaugliche Gemütszustände keine einmalige Sache ist. Die Aufgaben, die mit den vier Kategorien der geeigneten Aufmerksamkeit verbunden sind, müssen alle mittels Versuch und Irrtum ausgelotet und als erlernbare Fähigkeiten zur Meisterschaft gebracht werden. Um hier ein Gleichnis aus dem Kanon auszuborgen: beim vollen Erwachen geht es nicht darum, Pfeil und Bogen aufzuheben und auf einen zufälligen Volltreffer zu hoffen. Die Einsicht des Erwachens ergibt sich daraus, dass man bei seiner Übungspraxis auf einen Strohmann schießt, bis man fähig ist, "lange Strecken zu überbrücken, in rascher Folge das Ziel genau zu treffen und große Massen zu durchdringen." (AN 9.36)

Wie der Buddha in seiner ersten Rede feststellte, behauptete er erst dann von sich, erwacht zu sein, als er die jeweils zu den vier Kategorien gehörenden Aufgaben vollständig gemeistert hatte. Durch das vollständige Entwickeln der Faktoren des Weges begriff er auch die fünf Daseinsgruppen des Anhangens vollständig, nämlich bis zu dem Punkt, wo er jegliches Verlangen und Begehren nach ihnen aufgab. Erst da hatte er das Ende des Leidens vollständig verwirklicht. An diesem Punkt hatten die Kategorien der geeigneten Aufmerksamkeit ihre Aufgabe bei der Lösung des Leidensproblems erfüllt, aber auch danach waren sie noch nützlich. Wie der Ehrw. Sariputta bemerkte, wendet auch ein voll erwachter Arahant sie auf sein Erleben an, um für das Gemüt im Hier und Jetzt einen angenehmen Aufenthaltsort zu schaffen (SN 22.121).

In allen diesen Fällen bedeutet geeignete Aufmerksamkeit, die Dinge hinsichtlich ihrer Funktion zu betrachten — was sie bewirken können —, während das Anwenden der geeigneten Aufmerksamkeit selbst eine Art von Bewirken ist, das mit Blick auf das, was es im Gemüt bewirken kann, ausgewählt wurde. Und der Prüfstein dafür, ob es sich um geeignete Aufmerksamkeit handelt, besteht darin, dass es hilft, dem Leiden ein Ende zu bereiten. Vergleichen wir das mit den Beispielen, die der Buddha für ungeeignete Aufmerksamkeit gibt, dann erkennen wir, dass Aufmerksamkeit dann ungeeignet ist, wenn sie die Dinge mit Hilfe von Begriffen wie Sein oder Identität strukturiert, und geeignet, wenn sie Handlungen und deren Folgen zur Strukturierung verwendet. In der Tat sieht die geeignete Aufmerksamkeit im Sein eine Handlung, wobei jeder Akt des Seins oder des Annehmens einer Identität danach beurteilt wird, ob er Wohlergehen oder Schmerz bewirkt. Wenn wir uns selbst mit geeigneter Aufmerksamkeit betrachten, dann stellen wir nicht das, was wir sind in den Mittelpunkt, sondern das, was wir tun, — und insbesondere, ob das, was wir tun, untauglich – zu Leiden führend – oder tauglich – zu seinem Ende führend – ist.

Es ist wichtig, diesen Punkt im Auge zu behalten, wenn wir uns mit zwei Kritikpunkten auseinandersetzen, die oft gegen die vier Kategorien der geeigneten Aufmerksamkeit ins Feld geführt werden. Der erste Kritikpunkt lautet, sie erlaube nur eine eingeschränkte Sicht auf die Fülle und Vielfalt des Lebens, sie decke die schier grenzenlose Anzahl geschickter Herangehensweisen an das Erleben nicht ab. Bei der Formulierung einer Theorie des Daseins könnte man wohl argumentieren, je mehr Vielfalt sie beinhalte, desto besser sei es. Wenn wir uns aber einen Arzt aussuchen, werden wir wohl kaum einen nehmen, der darauf besteht, einer unbegrenzten Anzahl von Behandlungsmöglichkeiten für unsere Krankheit nachgehen zu wollen. Wir möchten einen haben, der sich auf die am meisten Erfolg versprechenden Behandlungsweisen konzentriert. Bei der geeigneten Aufmerksamkeit ist es genauso. Die vier Kategorien und die ihnen zugeordneten Aufgaben sind nicht dafür gedacht, die ganze Wirklichkeit zu umfassen, sondern dafür, unser Augenmerk auf genau die Faktoren zu richten, mit denen das grundlegendste Problem im Erleben geheilt werden kann. Der Buddha beschränkt sich in seiner Darstellung auf diese vier Kategorien, weil er nicht will, dass wir uns von dem Problem, um das es geht, ablenken lassen.

Der zweite Kritikpunkt lautet, die vier Kategorien seien dualistisch und somit einer nicht-dualistischen Weltsicht unterlegen. Wiederum könnte man, wenn es um die Formulierung einer Theorie des Daseins ginge, argumentieren, dass eine nicht-dualistische Theorie einer dualistischen überlegen sei, weil eine nicht-dualistische Auffassung des Daseins umfassender als eine dualistische sei, da sie eine einheitlichere Theorie ergäbe. Aber bei der geeigneten Aufmerksamkeit handelt es sich nicht um eine Theorie des Daseins. Sie stellt einen Führer zum Handeln im gegenwärtigen Augenblick dar. Weil der gegenwärtige Augenblick so verworren und komplex ist, stellen die aufgefächerten Kategorien, welche die geeignete Aufmerksamkeit bereitstellt, keine Schwäche, sondern vielmehr eine Stärke dar. Statt uns auf ein einziges Erklärungsmuster und eine einzige Herangehensweise an die Ereignisse in der Gegenwart einzuschränken, bieten sie uns die Möglichkeit zu einem differenzierteren Verständnis und eine größere Vielfalt an Handlungsmöglichkeiten, um mit den Verwicklungen und komplexen Zusammenhängen des Leidens umzugehen.

Wenn es darum geht, Handlungsmöglichkeiten für die Lösung eines Problem aufzuzeigen, dann ist eine bestimmte Anzahl von Handlungsmöglichkeiten nicht prinzipiell einer anderen überlegen. Worauf es ankommt, ist, dass die gebotenen Handlungsmöglichkeiten ausreichen, um das Problem zu lösen, aber nicht so viele sind, dass sie die Lösung verschleiern und selbst zur Verwirrung beitragen. Anders gesagt, sind die Handlungsmöglichkeiten nicht an irgendwelchen abstrakten Prinzipien zu messen, sondern daran, wozu sie uns befähigen. Der Buddha beschreibt zwar seinen Weg als diejenige Form des Handelns, welche dem Handeln selbst ein Ende bereitet, aber solange man im gegenwärtigen Augenblick immer noch etwas tut, sorgt die geeignete Aufmerksamkeit dafür, dass das, was man tut, auf dem Weg bleibt: Man weiß, an welchen Fäden des Leidensknotens man in welcher Richtung ziehen soll, und welche man besser in Ruhe lässt. Und sobald man in der Lage ist, das Leidensproblem zu entwirren, entwirrt sich alles Übrige mit.