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Dhamma ohne Wiedergeburt?
von
Bhikkhu Bodhi
Übersetzung ins Deutsche von: (Info)
Lothar Schenk
Alternative Übersetzung: noch keine vorhanden

Nachdem heutzutage sehr viel Wert darauf gelegt wird, dass religiöse Aussagen von persönlicher Relevanz und direkt nachprüfbar sein sollen, hat sich im Einklang damit für einige Dhamma-Kreise die Frage erhoben, ob nicht die altehrwürdige buddhistische Lehre von der Wiedergeburt einer strengen Neuüberprüfung zu unterziehen sei. Obwohl bisher nur ganz wenige buddhistische Denker sogar so weit gehen, dass sie vorschlagen, diese Lehre als "unwissenschaftlich" ganz zu streichen, hat dennoch eine andere Ansicht an Boden gewonnen, nämlich diejenige, die besagt, dass unabhängig davon, ob Wiedergeburt selbst nun eine Tatsache sei oder nicht, die Lehre von der Wiedergeburt für die Ausübung des Dhamma keine praktische Bedeutung habe und demzufolge auch keinen Stammplatz in der buddhistischen Lehre beanspruchen könne. Der Dhamma, so wird gesagt, beschäftige sich ausschließlich mit dem Hier und Jetzt, sei dazu da, uns zu helfen, unsere persönlichen Komplexe durch vertiefte Selbsterkenntnis und innere Ehrlichkeit aufzulösen. Alles darüber Hinausgehende am Buddhismus könne man getrost als religiöse Kulisse einer antiken Kultur beiseite lassen, völlig ungeeignet als Dhamma für unser Technikzeitalter.

Wenn wir einmal für einen Augenblick unsere persönlichen Vorlieben aus dem Spiel lassen und stattdessen direkt zu unseren Quellen gehen, stoßen wir auf die unbestreitbare Tatsache, dass der Buddha selbst die Wiedergeburt gelehrt hat, ja, dass er sie als eine Grundaussage seiner Lehre gelehrt hat. In ihrer Gesamtheit betrachtet zeigen uns Buddhas Lehrreden, dass die Wiedergeburtslehre nicht etwa einfach nur ein Zugeständnis an die seinerzeit geläufigen Anschauungen oder ein asiatisches Kulturartefakt darstellt, sondern dass sie gewaltige Folgerungen für die gesamte Lehrnachfolge nach sich zieht und sowohl die Zielsetzung beeinflusst, weswegen man zu üben beginnt, als auch Auswirkungen auf die inneren Beweggründe hat, die einen bis zur völligen Umsetzung bringen.

Das Ziel des buddhistischen Übungsweges ist die Befreiung vom Leiden, und der Buddha macht es überdeutlich klar, dass das Leiden, von dem es sich zu befreien gilt, das Leiden der Fesselung an den Samsara ist, den wiederholten Kreislauf von Geburt und Tod. Selbstverständlich hat der Dhamma eine unmittelbar sichtbare und persönlich nachvollziehbare Seite. Durch unmittelbare Betrachtung unseres eigenen Erlebens können wir erkennen, dass Kummer, Anspannung, Angst und Sorge immer aus unserer Gier, unserem Hass und unserer Verblendung entstehen und deshalb durch Entfernung dieser Befleckungen aufgehoben werden können. Die Wichtigkeit dieser unmittelbar sichtbaren Seite der Lehrausübung kann nicht hoch genug eingeschätzt werden, denn sie dient dazu, unser Vertrauen in die Wirksamkeit des buddhistischen Weges zu bestätigen. Wenn man jedoch die Wiedergeburtslehre herunterspielt und die ganze Bedeutung des Dhamma nur in der Linderung von geistigem Leiden durch vertiefte Selbsterkenntnis sehen will, dann heißt das den Dhamma jener weitergehenden Perspektiven zu berauben, denen er seine volle Breite und Tiefe verdankt. Indem man das tut, läuft man ernstlich Gefahr, die Buddhalehre am Ende zu wenig mehr als einem ausgefeilten altertümlichen System humanistischer Psychotherapie zu degradieren.

Der Buddha selbst hat deutlich erklärt, dass das Kernproblem des menschlichen Daseins nicht einfach nur die Tatsache ist, dass wir Kummer, Trauer und Angst ausgesetzt sind, sondern dass wir durch unser egoistisches Festhalten uns an ein sich ständig selbst erneuerndes Muster von Geburt, Altern, Krankheit und Tod binden, innerhalb dessen wir die spezifischeren Formen geistiger Bedrängnis erleiden. Er hat außerdem gezeigt, dass die Hauptgefahr bei den Befleckungen ihre Rolle als Ursache für die Aufrechterhaltung des Kreislaufs der Wiedergeburten ist. Solange sie noch in den tieferen Schichten des Geistes vorhanden und nicht aufgegeben sind, zerren sie uns weiter durch den Kreislauf des Werdens, in dem wir eine Menge an Tränen "größer als die Wasser des Ozeans" vergießen. Wenn wir diese Dinge sorgfältig in Betracht ziehen, dann erkennen wir, dass die Lehrausübung nicht zum Ziel hat, uns ein bequemes Mittel für die Aussöhnung mit unserer gegenwärtigen Persönlichkeit und Situation in der Welt an die Hand zu geben, sondern dass sie eine tiefgreifende innere Umbildung einleiten soll, die zu unserer Befreiung vom Kreislauf weltlichen Daseins in seiner Gesamtheit führen wird.

Zugegebenermaßen bestand für die meisten von uns der Hauptantrieb, weswegen wir begonnen haben, den Weg des Dhamma zu beschreiten, eher in einem nagenden Gefühl der Unzufriedenheit mit dem sich in Routine erschöpfenden Gang unseres unerleuchteten Lebens als in der durchdringenden Erkenntnis der Gefahren des Kreislaufs der Wiedergeburten. Wenn wir allerdings dem Dhamma bis zum Ende folgen wollen und sein volles Potenzial, uns Frieden und höhere Weisheit zu schenken, nutzen wollen, müssen unsere inneren Antriebe über jene hinaus, die uns anfänglich auf den Weg brachten, weiter reifen. Unsere Beweggründe müssen jenen wesentlichen Wahrheiten entgegenwachsen, die uns der Buddha enthüllt hat, und wir müssen, indem wir jene Wahrheiten voll umfassen, diese zum Ausbau des ihnen innewohnenden Vermögens benutzen, uns zur Verwirklichung des Ziels zu führen.

Unser innerer Antrieb erlangt seine notwendige Reife durch den Ausbau der rechten Sichtweise, des ersten Faktors des Edlen Achtfachen Wegs, und wie der Buddha erklärt hat, beinhaltet das, dass man das Prinzip von Kamma und Wiedergeburt als grundlegend für den Aufbau unseres Daseins begreift. Zwar ist die Betrachtung des Augenblicks der Schlüssel zur Entwicklung der Einsichtsmeditation, aber es hieße in ein irriges Extrem verfallen, wollte man behaupten, dass die Ausübung des Dhamma sich vollständig darin erschöpfe, die Achtsamkeit auf die Gegenwart aufrechtzuerhalten. Der buddhistische Weg betont die besondere Rolle der Weisheit als desjenigen Werkzeugs, mittels dessen die Befreiung zu verwirklichen ist, und Weisheit kann nicht allein aus der Durchdringung des Augenblicks in seiner vertikalen Tiefe bestehen, sondern muss auch ein Verständnis für die vergangenen und zukünftigen Horizonte beinhalten, innerhalb derer sich unser gegenwärtiges Dasein entfaltet. Erst die volle Kenntnisnahme des Prinzips der Wiedergeburt wird uns mit jener rundum lückenlosen Perspektive ausstatten, die es uns erlaubt, unser jeweiliges Leben in seinem übergeordneten Zusammenhang und seinem gesamten Beziehungsgeflecht zu überblicken. Diese Sicht wird uns den Ansporn für unser eigenes Weiterverfolgen des Weges liefern und wird uns die tiefe innere Bedeutung des Ziels enthüllen, auf das unsere Übung gerichtet ist, nämlich das Ende des Kreislaufs der Wiedergeburten als endgültige Befreiung des Geistes vom Leiden.