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Meditation über Nicht-Selbst
Ein (für Bodhi Leaves bearbeiteter) Meditationsvortrag
von
Ehrw. Schwester Khema
Übersetzung ins Deutsche von: (Info)
Lothar Schenk
Alternative Übersetzung: noch keine vorhanden

Im Buddhismus verwenden wir die Ausdrücke "Selbst" und "Nicht-Selbst", und daher ist es wichtig, zu verstehen, was genau mit diesem "Nicht-Selbst", Anatta, gemeint ist, selbst wenn es sich zuerst nur um eine rein gedankliche Vorstellung handelt, denn der innere Kern der Buddhalehre dreht sich um diesen Begriff. Die Anatta-Lehre ist nur der Lehre des Buddha eigen. Niemand, kein anderer spiritueller Lehrer, hat Nicht-Selbst auf genau diese Weise ausgedrückt. Und dadurch, dass es von ihm auf diese Weise ausgedrückt wurde, ist es möglich geworden, darüber zu sprechen. Viel ist über Nicht-Selbst geschrieben worden; aber um es zu verstehen, muss man es erfahren. Genau das ist das Ziel der Lehre: die Erfahrung von Nicht-Selbst.

Und doch muss man, um Nicht-Selbst erfahren zu können, erst einmal das Selbst vollständig kennen. Wirklich kennen. Denn sofern wir nicht wissen, was dieses Selbst ist, dieses Selbst, das wir "Ich" nennen, ist es unmöglich zu wissen, was es bedeutet, zu sagen "da gibt es kein Selbst". Um etwas weggeben zu können, müssen wir es erst einmal vollständig in der Hand haben.

Wir versuchen ständig, das Selbst neu zu bestätigen. Was ja schon zeigt, dass dieses "Selbst" eine sehr brüchige und ziemlich flüchtige Sache sein muss, denn wenn es das nicht wäre, warum müssten wir es dann ständig neu bestätigen? Warum haben wir ständig Angst, dass das "Selbst" bedroht sein könnte, dass es nicht sicher sein könnte, dass es nicht bekommen könnte, was es zum Überleben braucht? Wenn es wirklich so ein stabiles, festes Gebilde wäre, wie wir glauben, würden wir uns nicht so oft bedroht fühlen.

Wir bestätigen das "Selbst" immer und immer wieder durch Identifizierung. Wir identifizieren uns mit einem bestimmten Namen, einem Alter, einem Geschlecht, einer Fähigkeit, einem Beruf. "Ich bin Rechtsanwalt, ich bin Arzt. Ich bin Buchhalter. Ich bin Student." Und wir identifizieren uns mit den Personen, an denen wir hängen. "Ich bin ein Ehemann, ich bin eine Ehefrau, ich bin eine Mutter, ich bin eine Tochter, ich bin ein Sohn." Nun, sprachlich gesehen, müssen wir "Ich" und "Selbst" so verwenden -- aber es geht über das rein Sprachliche hinaus. Wir denken wirklich, dass dieses "Selbst" das ist, was wir sind. Wir glauben wirklich daran. Es gibt keinen Zweifel in uns, dass dieses "Selbst" das ist, was wir sind. Wenn irgend einer dieser Faktoren bedroht ist, wenn eine Ehefrau zu sein bedroht ist, wenn eine Mutter zu sein bedroht ist, wenn ein Rechtsanwalt zu sein, ein Lehrer zu sein bedroht ist -- oder wenn wir die Personen verlieren, die es uns erlauben, dieses "Selbst" aufrecht zu erhalten -- was für eine Tragödie!

Die Selbst-Identifikation wird unsicher und für "mich" wird es schwierig zu sagen: "schau mich an", "das bin ich". Lob und Tadel sind genauso. Lob bestätigt "mich". Tadel bedroht "mich". Also mögen wir das Lob und lehnen den Tadel ab. Das Ego ist bedroht. Ruhm und Schande -- das gleiche. Gewinn und Verlust. Wenn wir gewinnen, wird das Ego größer; wenn wir verlieren, wird es etwas kleiner. So stecken wir ständig in einem Dilemma und leben in ständiger Furcht. Das Ego könnte ja ein kleines bisschen von seiner Großartigkeit verlieren. Irgend jemand könnte es etwas kleiner machen. Uns allen passiert so etwas. Irgend jemand gibt uns gewiss irgendwann für irgendetwas die Schuld. Selbst dem Buddha wurde von manchem etwas vorgeworfen.

Nun ja, der Vorwurf, der uns gemacht wird, ist nicht das Problem. Das Problem ist unsere Reaktion. Das Problem ist, dass wir uns kleiner fühlen. Das Ego hat es schwer, sich wieder aufzurichten. Was wir dann gewöhnlich machen, ist, dass wir Gegenvorwürfe erheben und dadurch das Ego des Gegenübers auch ein Stückchen kleiner machen.

Die Identifikation mit dem, was wir tun und was wir haben, Besitz oder Personen, was immer es auch jeweils sei, ist, so glauben wir, für unser Überleben notwendig. Das Überleben des "Selbst". Wenn wir uns nicht mit diesem oder jenem identifizieren, kommen wir uns vor wie im freien Fall. Deswegen ist es so schwierig, bei der Meditation das Denken einzustellen. Weil es ohne Denken keine Identifikation gäbe. Wenn ich nicht denke, womit identifiziere ich mich dann? Es ist schwierig, in der Meditation zu einem Stadium zu kommen, wo es tatsächlich nichts mehr gibt, womit man sich identifizieren kann.

Auch Glücklichsein kann Identifikation sein. "Ich bin glücklich." "Ich bin unglücklich." Weil wir so stark am Überleben hängen, können wir mit dem Identifizieren nicht aufhören. Wenn diese Identifikation eine Frage von Tod oder Leben für das Ego wird, was es gewöhnlich ist, dann wird die Angst vor dem Verlust so groß, dass wir ständig in einem Zustand der Furcht sein können. Ständig in Angst davor, entweder unsere Besitztümer zu verlieren, die uns zu dem machen, was wir sind, oder die Personen, die uns zu dem machen, was wir sind. Wenn wir keine Kinder haben, oder wenn sie alle sterben, sind wir keine Mutter mehr. Also steht Angst an oberster Stelle. Das gleiche gilt für alle anderen Identifikationen. Keine sehr friedvolle Lebensweise, und was ist schuld daran? Nur eines: Ego, das Verlangen, zu sein.

Diese Identifikation führt natürlich zu dem Verlangen, zu besitzen. Und das Besitzen führt zur Bindung. Was wir haben, womit wir uns identifizieren, daran hängen wir. Dieses Festhalten und Festklammern macht es äußerst schwierig, einen freien, offenen Standpunkt einzunehmen. Diese Art des Festhaltens, egal, woran wir hängen -- nicht unbedingt Autos oder Häuser, noch nicht einmal Personen -- aber an Ansichten und Meinungen hängen wir bestimmt. Wir hängen an unserer Weltanschauung. Wir hängen an der Vorstellung, was uns glücklich machen wird. Vielleicht hängen wir an der Vorstellung, wer dieses Universum geschaffen hat. Woran wir auch hängen, selbst wie die Regierung das Land führen sollte, das alles macht es äußerst schwierig, die Dinge zu sehen, wie sie wirklich sind. Einen offenen Geist zu haben. Und nur ein offener Geist kann neue Vorstellungen und neue Erkenntnisse aufnehmen.

Der Buddha verglich seine Zuhörer mit vier verschiedenen Arten von Tongefäßen. Das erste Tongefäß hat Löcher im Boden. Wenn man Wasser hineingießt, fließt es sofort wieder heraus. Anders gesagt, was immer man solche Personen lehrt, ist verschwendet. Das zweite Tongefäß verglich er mit einem, das Sprünge hat. Wenn man Wasser hineingießt, sickert es heraus. Diese Leute haben kein Erinnerungsvermögen. Sie können zwei und zwei nicht zusammenzählen. Sprünge im Verständnis. Den dritten Zuhörer verglich er mit einem Gefäß, das bereits vollständig gefüllt ist. Man kann kein Wasser hineingießen, weil es schon randvoll ist. Solche Menschen sind so voll mit Ansichten, dass sie nichts Neues mehr lernen können. Aber hoffentlich sind wir die vierte Art. Leere Gefäße ohne Löcher oder Sprünge. Vollkommen leer.

Ich behaupte mal, das sind wir nicht. Aber vielleicht leer genug, um genügend aufzunehmen. Leer zu sein auf diese Weise, leer an Ansichten und Meinungen, das bedeutet, nicht festzuhalten. Sogar nicht daran festzuhalten, was wir für die Wirklichkeit halten. Was immer wir auch für die Wirklichkeit halten, ist es das gewiss nicht, denn wenn es das wäre, würden wir keinen einzigen Augenblick lang unglücklich sein. Wir würden niemals das Gefühl haben, irgend etwas zu vermissen. Wir würden niemals das Gefühl haben, dass es uns an Gesellschaft, an Eigentum mangelt. Wir würden uns niemals enttäuscht oder langweilig fühlen. Wenn wir uns je so fühlen, dann ist das, was immer wir für wirklich halten, genau das nicht. Die wahre Wirklichkeit ist vollkommene Erfüllung. Wenn wir nicht vollkommen erfüllt sind, dann sehen wir nicht die ganze Wirklichkeit. Daher ist jede Ansicht, die wir haben können, entweder falsch oder nur teilweise richtig.

Weil sie falsch ist oder nur teilweise richtig, und vom Ego begrenzt, müssen wir ihr mit Misstrauen begegnen. Alles, woran wir uns festhalten, bindet uns an sich. Wenn ich mich an ein Tischbein klammere, komme ich unmöglich zur Tür hinaus. Ich kann mich überhaupt nicht bewegen. Ich sitze fest. Erst, wenn ich loslasse, habe ich die Möglichkeit, hinauszukommen. Jede Identifikation, jeder Besitz, an dem man sich festhält, verhindert es, dass wir die transzendentale Wirklichkeit erreichen können. Nun sehen wir das Festhalten recht leicht, wenn wir uns an Dinge und Personen klammern, aber wir können nicht leicht sehen, warum die fünf Khandas die fünf Gruppen des Festhaltens genannt werden. So heißen sie, und in der Tat sind sie es, an die wir uns am meisten klammern. Lückenlos geht dieses Festhalten. Wir halten nicht einmal inne und denken nach, wenn wir den Körper betrachten, und wenn wir den Geist betrachten, oder wenn wir Gefühl, Wahrnehmung, geistige Gebilde und Bewusstsein betrachten -- vedana, sañña, sankhara, und viññana. Wir betrachten diese Geist-Körperlichkeit, nama-rupa, und wir bezweifeln nicht einmal die Tatsache, dass dies mein Gefühl, meine Wahrnehmung, meine Erinnerung, meine Gedanken, und mein Erleben meines Bewusstseins sind. Und niemand beginnt zu zweifeln, bis er anfängt, zu sehen. Und für dieses Sehen brauchen wir einiges an leerem Raum außerhalb von Ansichten und Meinungen.

Festhalten ist das größte Besitzenwollen, die größte Bindung, die wir haben. Solange wir festhalten, können wir die Wirklichkeit nicht sehen. Wir können die Wirklichkeit nicht sehen, weil das Festhalten im Weg ist. Das Festhalten färbt alles ein, was wir auch für wahr halten. Jetzt ist es aber nicht möglich, einfach zu sagen: "In Ordnung, ich höre mit dem Festhalten auf." Das können wir nicht. Der Vorgang des Auseinandernehmens des "Ich", nicht mehr zu glauben, dass dies hier ein Ganzes ist, geht nur allmählich vor sich. Aber wenn Meditation überhaupt Nutzen und Erfolg hat, dann muss sich zuallererst zeigen, dass es einen Geist gibt und einen Körper gibt. Da ist keine geschlossene Einheit, die ständig in Übereinstimmung handelt. Es gibt den Geist, der denkt und den Körper handeln lässt. Das ist der erste Schritt, um sich etwas deutlicher kennen zu lernen. Und dann können wir feststellen "Das ist ein Gefühl" und "Ich gebe diesem Gefühl einen Namen", was Erinnerung und Wahrnehmung bedeutet. "Das ist der Gedanke den ich zu diesem Gefühl habe. Der Gedanke ist aufgekommen, weil die Geist-Bewusstheit mit dem aufsteigenden Gefühl in Berührung gekommen ist."

Nehmt die vier Teile der Khandas, die zum Geist gehören, auseinander. Wenn wir das tun, während es geschieht -- nicht jetzt, wenn wir daran denken -- sondern während es geschieht, dann erhalten wir eine Ahnung davon, dass das nicht wirklich ich bin, dass das Erscheinungen sind, die auftauchen, einen Augenblick verweilen, und dann vergehen. Wie lange bleibt die Geist-Bewusstheit bei einem Objekt? Und wie lange dauern Gedanken? Und haben wir sie wirklich eingeladen?

Das Festhalten, das Festgehaltene, sie lassen das Ego auftauchen. Wegen des Festhaltens erscheint die Vorstellung des "Ich", und dann gibt es mich und all die Probleme, die ich habe. Ohne mich, gäbe es da Probleme? Wenn da niemand in meinem Inneren sitzt -- wie wir es glauben --, der da Ich oder Hans oder Helga genannt wird, wer hat dann das Problem? Die Khandas haben keine Probleme. Die Khandas sind nur Vorgänge. Es sind Erscheinungen, das ist alles. Sie gehen einfach weiter und weiter und weiter. Aber weil ich sie ergreife und versuche, mich an ihnen festzuhalten, und sage: "Ich bin das, ich fühle das, ich will das", dann tauchen Probleme auf.

Wenn wir wirklich vom Leiden loskommen wollen, voll und ganz, dann muss das Festhalten weg. Der spirituelle Weg ist niemals der Weg des Erlangens; er ist immer der des Loslassens. Je mehr wir loslassen, um so mehr leeren, offenen Raum gibt es für uns, um die Wirklichkeit zu sehen. Weil das, was wir loslassen, nicht mehr da ist, gibt es die Möglichkeit, sich einfach zu bewegen, ohne an den Ergebnissen der Bewegung zu hängen. Solange wir an den Ergebnissen unseres Handelns festhalten, solange wir an den Ergebnissen unseres Denkens festhalten, so lange sind wir gebunden, eingeengt.

Nun gibt es noch eine dritte Sache, die wir tun: wir haben den Wunsch, etwas oder jemand zu werden. Den Wunsch, ein hervorragender Meditationsmeister zu werden. Den Wunsch, ein Hochschulabsolvent zu werden. Den Wunsch, etwas zu werden, was wir nicht sind. Und dieses Werden hält uns vom Sein ab. Wenn wir vom Sein getrennt sind, können wir nicht auf das achten, was wirklich da ist. Dieses ganze Werden ist, natürlich, in der Zukunft. Da alles, was in der Zukunft liegt, nur Spekulation ist, leben wir in einer Traumwelt. Die einzige Wirklichkeit, derer wir gewiss sein können, ist dieser gegenwärtige Augenblick; und dieser gegenwärtige Augenblick, wie ihr sicher bemerken könnt -- ist bereits vorbei, und dieser ist vorbei, und der nächste ist auch schon vorbei. Seht zu, wie sie alle vorbeigehen! Das ist die Unbeständigkeit von allem. Jeder Augenblick geht vorbei, aber wir klammern uns daran, versuchen uns daran festzuhalten. Versuchen, daraus Wirklichkeit zu machen. Versuchen, daraus Sicherheit zu gewinnen. Versuchen, sie zu etwas zu machen, was sie nicht sind. Seht zu, wie sie alle vorbeigehen. Wir können es garnicht so schnell sagen, wie es geschieht.

Es gibt nichts Sicheres. Nichts zum Festhalten, nichts Festes. Das ganze Universum fällt ständig auseinander und kommt wieder zusammen. Und das schließt den Geist und den Körper ein, die wir "Ich" nennen. Ihr mögt das glauben oder nicht, es macht keinen Unterschied. Um es zu wissen, muss man es erfahren; wenn man es erfährt, ist es vollkommen klar. Was man erfährt, ist vollkommen klar. Keiner kann es ableugnen. Sie mögen es versuchen, aber ihre Einwände sind sinnlos, denn man hat es ja erfahren. Es ist, wie wenn man in die Mango beißt; dann kennt man ihren Geschmack.

Um es zu erfahren, braucht man die Meditation. Ein gewöhnlicher Geist kann nur gewöhnliche Begriffe und Vorstellungen fassen. Wenn man außergewöhnliche Erfahrungen und Vorstellungen verstehen und erfahren möchte, braucht man einen außergewöhnlichen Geist. Ein außergewöhnlicher Geist ergibt sich durch innere Sammlung. Die meisten Meditierenden haben ein Stadium erfahren, das von ihrem gewohnten abweicht. Also ist es nicht mehr gewöhnlich. Aber wir müssen das weit über das Anfangsstadium hinaus verstärken. Bis zu dem Punkt, wo der Geist wirklich außergewöhnlich ist. Außergewöhnlich in dem Sinne, dass er sich überall dorthin lenken kann, wo er möchte. Außergewöhnlich in dem Sinne, dass er durch alltägliche Ereignisse nicht mehr aus der Ruhe gebracht wird. Wenn der Geist fähig zur inneren Sammlung ist, dann erlebt er Zustände, die er vorher nicht gekannt hat. Die Erkenntnis, dass das Universum ständig auseinander fällt und wieder zusammen kommt, ist eine meditative Erfahrung. Dazu braucht es Übung, Ausdauer und Geduld. Und wenn der Geist ungestört und unbewegt ist, tauchen Gelassenheit, Gleichmut und innerer Friede auf.

An diesem Punkt versteht der Geist die Vorstellung der Unbeständigkeit so tiefgehend, dass er sich selbst als völlig unbeständig erkennt. Und wenn man den eigenen Geist als völlig unbeständig erlebt, ergibt sich eine Verschiebung in der Art, wie man die Welt sieht. Ich vergleiche diese Verschiebung gerne mit einem Kaleidoskop, mit dem Kinder spielen. Eine leichte Berührung, und man erhält ein anderes Bild. Nur eine leichte Verschiebung, und alles sieht völlig anders aus.

Nicht-Selbst wird erfahren durch den Aspekt der Unbeständigkeit, durch den Aspekt der Unzulänglichkeit, und durch den Aspekt der Leere. Leer von was? Der Ausdruck "Leere" wird so häufig missverstanden, weil er als Begriff gesehen wird, und dann sagt man: "was ist mit leer eigentlich gemeint?" Alles ist doch da: Personen sind da, und ihre Eingeweide, Gedärme und Knochen sind da, ihr Blut ist da, alles ist voller Sachen -- und der Geist ist auch nicht leer. Er enthält Vorstellungen, Gedanken, Gefühle. Und selbst wenn die nicht da sind, was soll das heißen, Leere? Das einzige, was leer ist, ist doch, wenn eine Sache leer ist.

Es gibt keine spezifische Wesenheit in irgendetwas. Das ist Leere. Das ist das Nichts-Sein. Dieses Nichts-Sein wird auch in der Meditation erfahren. Es ist leer, ohne spezifische Person darinnen, ohne spezifische Essenz, ohne irgendetwas, was ihm Bestand verleiht, sogar ohne irgendetwas, was irgendwie wichtig wäre. Alles ist im Fluss. Das ist also die Leere. Und diese Leere ist in allem zu erkennen; auch in sich selbst zu erkennen. Und das wird Anatta, Nicht-Selbst, genannt. Leer von Essenz. Da ist niemand drinnen. Das existiert alles nur in der Vorstellung. Zuerst fühlt sich das sehr unsicher an.

Diese Person, die mir bisher so wichtig war, diese Person, die das und jenes erreichen will, diese Person, die mir Sicherheit geben wird, die mein Garant für ein glückliches Leben sein wird -- sobald ich diese Person gefunden habe -- gibt es diese Person garnicht wirklich. Was für eine Furcht einflößende, Unsicherheit erzeugende Vorstellung das ist! Was für ein Gefühl der Angst da aufsteigt! Aber tatsächlich ist es genau umgekehrt. Wenn man diesen Schrecken akzeptiert und aushält und ihn überwindet, gelangt man zu ganz und gar vollkommener Erleichterung und Befreiung.

Ich gebe euch ein Gleichnis: Stell dir vor, du besitzt ein wertvolles Juwel, so wertvoll, dass du darauf vertraust, wenn harte Zeiten für dich kommen, dass es dir wieder aufhilft. Es ist so wertvoll, dass du es als deine Sicherheit nehmen kannst. Du vertraust keinem. Also hast du einen Safe in deinem Haus, und da hinein sperrst du das Juwel. Jetzt hast du also viele Jahre hart gearbeitet und glaubst, du hast einen Urlaub verdient. Aber jetzt, was tun mit dem Juwel? Offensichtlich kannst du es nicht mitnehmen in den Urlaub am Meer. Also kaufst du neue Schlösser für die Türen zu deinem Haus, verrammelst die Fenster und alarmierst deine Nachbarn. Du erzählst ihnen von dem geplanten Urlaub und bittest sie, auf das Haus aufzupassen -- und den Safe darin. Natürlich, sagen sie, sie machen das. Du solltest also ganz beruhigt sein, und so geht es los in deinen Urlaub.

Du fährst ans Meer, und es ist wunderbar. Fabelhaft. Die Palmen wiegen sich im Wind, und dein Platz am Strand ist hübsch und sauber. Die Wellen sind warm, und alles ist prächtig. Am ersten Tag amüsierst du dich ausgezeichnet. Aber am zweiten Tag kommen die ersten Zweifel; die Nachbarn sind ja nette Leute, aber manchmal gehen sie ja weg und besuchen ihre Kinder. Sie sind nicht immer zuhause, und in letzter Zeit gab es doch so eine Einbruchswelle in der Nachbarschaft. Am dritten Tag bist du überzeugt, dass etwas Schlimmes passieren wird, und du fährst nach Hause. Du betrittst dein Haus und öffnest den Safe. Alles in Ordnung. Du gehst zu den Nachbarn, und sie fragen dich: "Warum bist du zurückgekommen? Wir haben doch auf dein Haus aufgepasst. Du hättest nicht zurückkommen brauchen. Alles ist bestens."

Nächstes Jahr das gleiche wieder. Wieder sprichst du mit deinen Nachbarn. "Diesmal bleibe ich wirklich den ganzen Monat weg. Ich brauche diesen Urlaub, weil ich so hart gearbeitet habe." Und sie sagen wieder: "Absolut kein Grund zur Sorge, geh nur. Geh an den Strand." Also verrammelst du wieder die Fenster, schließt die Türen ab, bringst alles in Ordnung und fährst an den Strand. Wieder ist es wunderbar, wunderschön. Dieses Mal hältst du es fünf Tage aus. Am fünften Tag bist du überzeugt, dass etwas Furchtbares passiert sein muss. Also fährst du nach Hause. Du fährst nach Hause, und oh weh, so ist es. Das Juwel ist weg. Du hast einen völligen Zusammenbruch. Du bist völlig verzweifelt. Niedergeschlagen. Also gehst du zu den Nachbarn, aber sie haben keine Ahnung, was passiert ist. Sie waren die ganze Zeit da. Dann setzt du dich hin und denkst darüber nach, und auf einmal geht dir auf, jetzt wo das Juwel weg ist, kannst du genauso gut an den Strand zurück fahren und dir's gut gehen lassen!

Dieses Juwel ist das Selbst. Sobald es weg ist, ist auch die ganze Last weg, sich darum kümmern zu müssen, alle Ängste darum, alles Verrammeln von Türen und Fenstern, von Herz und Geist sind nicht mehr nötig. Du kannst einfach hingehen und Freude haben, solange du noch in diesem Körper bist. Nachdem man die Sache genau untersucht hat, erweist sich das Fürchterliche am Verlust dieses Dings, das so wertvoll zu sein schien, als die einzige Erleichterung und Befreiung von allen Sorgen, die es gibt.

Es gibt drei Tore zur Befreiung: das zeichenlose, das wunschlose und das leere. Wenn wir die Unbeständigkeit, Anicca, völlig verstehen, wird es die zeichenlose Befreiung genannt. Wenn wir das Leiden, Dukkha, völlig verstehen, ist es die wunschlose Befreiung. Wenn wir Nicht-Selbst, Anatta, völlig verstehen, dann ist es die leere Befreiung. Das bedeutet, wir können durch jedes dieser drei Tore gehen. Und befreit zu sein bedeutet, nie wieder einen unglücklichen Augenblick erleben zu müssen. Es bedeutet auch noch etwas anderes: es bedeutet, daß wir kein Kamma mehr erzeugen. Eine völlig befreite Person handelt noch, denkt noch, spricht noch und sieht in jeder Hinsicht noch genauso aus wie jeder andere, aber diese Person hat die Vorstellung aufgegeben, dass ich bin, ich denke, ich spreche, ich handele. Kamma wird nicht mehr erzeugt, weil nur noch der Gedanke, die Rede, die Handlung für sich besteht. Es gibt das Erlebnis, aber keinen Erleber. Und weil kein Kamma mehr erzeugt wird, gibt es keine Wiedergeburt mehr. Das ist die vollkommene Erleuchtung.

In dieser Tradition gibt es die Einteilung in drei Erleuchtungsstufen, die vor der vierten Stufe, der vollkommenen Erleuchtung, liegen. Die erste Stufe, das ist diejenige, mit der wir uns -- zumindest theoretisch -- auseinandersetzen können, wird Sotapanna genannt. Der in den Strom Eingetretene. Das bedeutet eine Person, die Nibbana einmal erfahren hat, und dadurch in den Strom eingetreten ist. Eine solche Person kann nicht mehr vom Weg abgebracht werden. Wenn die Einsicht stark ist, kann es sein, dass nur noch ein Leben nötig ist. Wenn die Einsicht schwach ist, können es noch mehrere Leben sein. Sobald man Nibbana einmal selbst erfahren hat, gehen einige der Schwierigkeiten verloren, die man bis dahin hatte. Die spürbarste Behinderung, die man verliert, ist die Vorstellung, dass die Person, die wir "Ich" nennen, ein abgetrenntes Wesen ist. Die falsche Anschauung, ein Selbst zu haben, geht verloren. Das heißt aber nicht, dass ein Sotapanna sich durchgehend des Nicht-Selbst bewußt ist. Die falsche Anschauung geht verloren. Aber die richtige Anschauung muss immer wieder verstärkt werden und durch diese Verstärkung immer wieder neu erfahren werden.

Solch eine Person hat kein grosses Interesse mehr an Zeremonien und Ritualen, und gewiss keinen Glauben daran. Sie werden vielleicht noch ausgeführt, weil es so Tradition oder Brauch ist, aber jemand derartiges glaubt nicht mehr daran, dass sie irgendwie zur Befreiung führen könnten (wenn er das überhaupt jemals glaubte). Und etwas sehr Interessantes geht verloren: skeptischer Zweifel. Skeptischer Zweifel geht verloren, weil man selbst gesehen hat, dass das, was der Buddha lehrte, tatsächlich so ist. Bis dahin muss skeptischer Zweifel immer wieder auftauchen, weil es leicht ist, zu denken: "Na ja, vielleicht. Vielleicht ist es ja so, aber wie soll ich da sicher sein?" Man kann erst durch die eigene Erfahrung sicher sein. Danach bleibt natürlich keinerlei skeptischer Zweifel übrig, weil man genau das Beschriebene gesehen hat, und nachdem man es gesehen hat, führen das eigene Herz und der eigene Geist zu einem Verständnis, welches es ermöglicht, alles übrige zu sehen.

Die Buddhalehre basiert notwendigerweise auf dem Verständnis, dass alles ohne besondere Essenz ist. Es gibt Kontinuität, aber keine besondere Wesenheit darin. Und diese Kontinuität macht es für uns so schwierig, zu erkennen, dass tatsächlich niemand in diesem Körper ist, der die Bedingung dafür wäre, dass sich etwas ereignet. Die Dinge ereignen sich auch so. Wenn wir also das erste Mal einen Blick auf die Freiheit geworfen haben, Stromeintritt genannt, verändert sich etwas in uns. Gewiss löst es Gier und Hass nicht auf -- die werden tatsächlich garnicht erwähnt. Aber durch das größere Verständnis, das eine solche Person hat, vermindern sich Gier und Hass. Sie sind nicht mehr so stark, und sie drücken sich nicht mehr so grob aus, aber in subtilerer Form sind sie noch vorhanden.

Die nächsten Stufen sind der Einmal-Wiederkehrer, dann der Nicht-Wiederkehrer, dann der Arahat. Einmal-Wiederkehrer, noch ein weiteres Leben in der Welt der fünf Sinne. Nicht-Wiederkehrer, kein Leben als Mensch mehr nötig, und Arahat, vollkommen erleuchtet. Sinnliche Begierde und Hass sind erst beim Nicht-Wiederkehrer aufgelöst, und die Ich-Illusion vollständig erst beim Arahat.

Also können wir es ruhig akzeptieren, da wir ja keine Arahats sind, dass wir noch Gier und Hass in uns tragen. Man soll sich deswegen keinen Vorwurf machen: man soll verstehen, woher sie kommen. Sie kommen von der Illusion des Selbst. Ich möchte dieses Juwel beschützen, das mich ausmacht. So tauchen sie auf. Aber mit fortdauernder Meditationspraxis kann der Geist immer klarer und klarer werden. Und schließlich versteht er. Und wenn er versteht, kann er die transzendentale Wirklichkeit erkennen. Selbst wenn dies nur für einen Gedankenmoment geschieht, ist es ein Erlebnis von großer Tragweite und verändert unser Leben merklich.

Über den Autor

Schwester Khema wurde in Deutschland geboren, wuchs in Schottland und China auf und nahm später die amerikanische Staatsbürgerschaft an. Sie lebt zur Zeit *) im Wat Buddha Dhamma Waldkloster in der Nähe von Sidney, Australien, das im Jahre 1978 auf einem Stück Land errichtet wurde, das von ihr gekauft und gespendet worden war. Im Jahr 1979 wurde sie in Sri Lanka als Nonne ordiniert. Im Jahr 1982 errichtete sie das Internationale Buddhistische Frauenzentrum (International Buddhist Women's Centre) in der Nähe von Colombo. Sie verbringt den Großteil ihrer Zeit mit der Schulung von Meditationskursen an verschiedenen Orten in der Welt. Die Regenzuflucht verbringt sie in Sri Lanka.

*) Zur Zeit der Veröffentlichung. Schwester Khema starb im Jahr 1997. (Anm. d. Übersetzers)