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Die Wurzeln der buddhistischen Romantik
von
Thanissaro Bhikkhu
Übersetzung ins Deutsche von: (Info)
Lothar Schenk
Alternative Übersetzung: noch keine vorhanden
Alternative Formate: [book icon] Ein Druckversion finden sie in dem Buch: Reinheit des Herzens.

Buddhismus-Neulinge aus dem Westen sind oft verblüfft, dass die zentralen Konzepte, die seinen Kern auszumachen scheinen, ihnen merkwürdig bekannt vorkommen: gegenseitige Vernetztheit, Ganzheit, Ich-Transzendenz. Möglicherweise ist ihnen aber nicht klar, dass diese Begriffe sich bekannt anhören, weil sie ihnen bekannt sind. Zu einem großen Teil entstammen sie nicht den Lehren des Buddha, sondern dem Dharma-Tor der westlichen Psychologie, durch deren Filter die Worte des Buddha gegangen sind. Sie beziehen ihren Inhalt weniger aus den ursprünglichen Quellen des Dharma, sondern vielmehr aus ihren eigenen verborgenen Wurzeln in der westlichen Kultur: dem Gedankengut der Deutschen Romantiker.

Auch wenn die Deutschen Romantiker schon lange tot und fast vergessen sein mögen, so sind ihre Ideen noch quicklebendig. Ihr Gedankengut hat überlebt, weil sie die Ersten waren, die das Problem angingen, wie es sich anfühlt, in einer modernen Gesellschaft aufzuwachsen. Ihre Analyse des Problems, ebenso wie die Lösung, die sie vorschlugen, klingt immer noch bestechend.

Die moderne Gesellschaft, so ihre Sicht, ist entmenschlichend, weil sie dem Menschen seine Ganzheit nimmt. Die Arbeitsteilung führt zu Gefühlen von Zersplitterung und Isolation; das bürokratische Staatswesen zu Gefühlen von Reglementierung und Einengung. Als einzig wahres Heilmittel für diese Art von Gefühlen propagierten die Romantiker den schöpferischen Akt des künstlerischen Schaffens. Dieser Akt eint das gespaltene Selbst und löst seine Grenzen auf in einem erweiterten Gefühl des Eins-Seins und der Verbundenheit mit anderen Menschen und der Natur insgesamt. Der Mensch ist dann am meisten Mensch, wenn er die Freiheit besitzt, spontan aus seinem Herzen schöpferisch tätig zu werden. Des Herzens Schöpfungen bringen die Menschen untereinander in Verbindung. Obwohl viele Romantiker religiöse Institutionen und Doktrinen als entmenschlichend ansahen, wandten sich einige von ihnen der religiösen Erfahrung – verstanden als unmittelbares Gefühl des Eins-Seins mit der Natur in ihrer Gänze – als einer vorrangigen Quelle für die Wieder-Vermenschlichung zu.

Als sich Psychologie und Psychotherapie im Westen als Wissenschaftsdisziplinen entwickelten, nahmen sie viele Ideen der Romantiker in sich auf und vermittelten sie an die sie umgebende Kultur weiter. So kommt es, dass Konzepte wie Integration der Persönlichkeit, Selbstverwirklichung und gegenseitige Vernetztheit, ebenso wie das der heilenden Wirkung von ganzheitlichem, spontanem, spielerischem und fließendem Umgang mit der Welt, schon lange quasi Bestandteil der Luft sind, die wir atmen. Genauso ist es mit der Vorstellung, dass Religion in erster Linie eine Suche nach einem Gefühlserlebnis sei, und religiöse Lehren eine schöpferische Antwort auf dieses Erlebnis.

Neben ihrem Einfluss auf die Psychologie inspirierten diese Leitvorstellungen auch die Liberale Theologie im Christentum und das Reformjudentum, welche propagierten, die traditionellen Lehren für den Dialog mit jeder neuen Generation schöpferisch umzugestalten, um dadurch das religiöse Erlebnis frisch und am Leben zu erhalten. Als der Dharma in den Westen kam, war es somit nicht verwunderlich, dass die Leute ihn ebenfalls im Sinne dieser Leitvorstellungen interpretierten. Lehrer aus Asien – die selbst vielfach vor ihrem Gang in den Westen die Ideen der Romantik durch eine westlich orientierte Erziehung aufgenommen hatten – fanden heraus, dass ihnen der Kontakt mit Zuhörern aus dem Westen leichter fiel, indem sie Themen wie Spontanität und inneren Fluß als Gegensatz zur "Bürokratie des Ego" betonten. Schüler aus dem Westen entdeckten, dass sie einen besseren Bezug zu der Lehre vom Entstehen in Abhängigkeit herstellen konnten, wenn sie als eine Variante von gegenseitiger Vernetztheit interpretiert wurde; und auch die Nicht-Selbst-Lehre erwies sich im Sinne der Absage an ein separates Selbst zugunsten einer erweiterten, umfassenderen Identität mit dem gesamten Kosmos für sie als besser fassbar.

In der Tat hat die Sicht der Romantik auf das religiöse Leben mehr als nur vereinzelte Dharmalehren umgeformt. Sie färbt die westliche Sicht über Sinn und Zweck der Übungspraxis insgesamt. Westliche Lehrer aus allen Traditionen behaupten, Ziel der buddhistischen Übungspraxis sei, jenen schöpferischen inneren Fluß zu erlangen, mit dem die vielgestaltige Dualität zu überwinden sei. Wie ein Autor es ausdrückt, habe der Buddha gelehrt, dass "die Schranken aufzulösen, die wir zwischen uns selbst und der Welt errichten, die beste Verwendung für unser menschliches Leben ist. [Ichlosigkeit] drückt sich als Wissbegierde, als Anpassungsfähigkeit, als Humor, als spielerischer Umgang mit der Welt aus . . . als unsere Fähigkeit, mit dem Unbekannten entspannt umzugehen." In den Worten eines Anderen: "Wenn sich unsere Identität ausweitet, bis sie alles umfasst, finden wir Frieden mit dem Tanz der Welt." Und ein Dritter fügt hinzu: "Unsere Aufgabe für den Rest unseres Lebens besteht darin, uns für diese Unermesslichkeit zu öffnen und ihr Ausdruck zu verleihen."

So wie die Chinesen den Taoismus als Dharma-Tor hatten – wobei die heimische Tradition Konzepte lieferte, die ihnen halfen, den Dharma zu verstehen – hatten wir im Westen die Romantik als das unsere. Die Erfahrung, welche die Chinesen mit ihrem Dharma-Tor machten, beinhaltet jedoch eine wichtige Lektion, die häufig übersehen wird. Nach drei Jahrhunderten der Beschäftigung mit den buddhistischen Lehren ging ihnen allmählich auf, dass der Buddhismus und der Taoismus unterschiedliche Fragen stellten. Indem sie die Unterschiede herausarbeiteten, kamen sie nach und nach dazu, ihre taoistischen Vorwegannahmen anhand der buddhistischen Ideen zu hinterfragen. Anstatt zu einem Tropfen im taoistischen Meer zu werden, gelang es dem Buddhismus auf diese Weise, etwas wirklich Neues in die chinesische Kultur einzubringen. Die Frage ist, ob wir im Westen aus dem chinesischen Vorbild lernen und unsererseits beginnen, die buddhistischen Ideen zum Hinterfragen unseres Dharma-Tors zu verwenden, damit wir genau erkennen können, wie weit die Ähnlichkeiten zwischen dem Tor und dem tatsächlichen Dharma gehen. Tun wir das nicht, laufen wir Gefahr, das Tor für den eigentlichen Dharma zu halten und infolgedessen nie durch das Tor zu dem Dahinterliegenden zu gelangen.

Allgemein gesehen betrachten die Romantik und der Dharma das spirituelle Leben in einem ähnlichen Licht. Beide betrachten die Religion als Produkt menschlicher Geistestätigkeit statt göttlichen Eingreifens. Beide betrachten die Religion ihrem Wesen nach als auf Erfahrung gerichtet und von pragmatischer Art; ihre Rolle ist bei beiden therapeutisch, darauf gerichtet, die spirituellen Krankheiten des menschlichen Geistes zu heilen. Untersucht man aber die historischen Wurzeln der beiden Traditionen, so entdeckt man, dass sie sich völlig uneins sind, worin das Wesen der religiösen Erfahrung besteht, was die spirituellen Krankheiten sind, auf die sie anwendbar ist, und auch, was es bedeutet, geheilt zu sein.

Diese Unterschiede sind nicht nur historische Kuriositäten. Sie formen die Vorwegannahmen, mit denen Meditierende der Übungspraxis begegnen. Selbst wenn der Geist ganz auf die Gegenwart gerichtet ist, bringt er die gewohnten Vorwegannahmen mit und verwendet sie, um zu beurteilen, welche Erfahrungen – wenn überhaupt – lohnenswert sind. Das ist eine der Folgerungen aus der buddhistischen Karmalehre. Solange diese Vorwegannahmen ungeprüft bleiben, üben sie ihre Macht im Verborgenen aus. Um ihre Macht zu brechen, müssen wir daher die Wurzeln der buddhistischen Romantik untersuchen – welches Aussehen das Tor der Romantik dem Dharma verleiht. Und damit diese Untersuchung den buddhistischen Ideen von Kausalität Rechnung trägt, müssen wir in zwei Richtungen nach diesen Wurzeln suchen: in der Vergangenheit nach der Herkunft der romantischen Ideen, und in der Gegenwart nach den Ursachen, welche die Ideen der Romantik auch hier und jetzt immer noch als attraktiv erscheinen lassen.

Die ursprüngliche Inspiration lieferte den Romantikern eine eher unerwartete Quelle: Kant, der zerknitterte alte Professor, dessen tägliche Spaziergänge so pünktlich abliefen, dass die Nachbarn ihre Uhren nach ihm stellen konnten. In seinem Buch Kritik der Urteilskraft lehrte er, dass ästhetische Schöpfung und ästhetisches Geschmacksurteil die höchsten Fähigkeiten des menschlichen Geistes seien, weil nämlich sie alleine in der Lage seien, die Dichotomien der menschlichen Erfahrung zu heilen. Friedrich Schiller (1759-1805), vielleicht der einflussreichste Philosoph der Romantik, baute diese These mit seiner Vorstellung vom ästhetischen “Spieltrieb” als höchstem Ausdruck menschlicher Freiheit weiter aus, der sowohl über die Zwänge der tierischen Existenz als auch die Gesetze der Logik hinausführe und sie dadurch zur Integration brächte. Der Mensch, sagte er, “ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.”

In Schillers Augen bewirkte dieser Spieltrieb nicht nur die Selbstintegration, sondern half auch dabei, die eigene Trennung von anderen Menschen und vom natürlichen Umfeld insgesamt aufzuheben. Jemand, der die nötige innere Freiheit zur Selbstintegration besaß, würde instinktiv wollen, dass andere ebenfalls die gleiche Freiheit erleben sollten. Dieser Zusammenhang erklärt das politische Programm der Romantiker, den Unterdrückten aller Nationen mit Hilfe und Anteilnahme beizustehen, ihre Unterdrücker abzuschütteln. Der Wert der inneren Einheit erwies sich in ihren Augen eben durch die Fähigkeit, auch in der Welt des sozialen und politischen Handelns Bande der Einheit zu schaffen.

Nach Schillers Vorstellungen hatte dieser Integrationsvorgang keinen zeitlichen Endpunkt: vollkommene Einheit konnte nie erreicht werden. Ein sinnvolles Leben bestand darin, ständig mit dem Prozess der Integration beschäftigt zu sein. Der Weg war das Ziel.

Er war auch völlig unstrukturiert und keinen Zwängen unterworfen. Da der Spieltrieb seinem Wesen nach frei war, war der Weg jedes Einzelnen zur Integration individuell und einzigartig.

Schillers Zeitgenosse Friedrich Schleiermacher (1768-1834) übertrug diese Vorstellungen auf die Religion und zog die Schlussfolgerung, sie sei, wie jede andere Kunstform auch, eine Schöpfung des menschlichen Geistes, und ihr größter Beitrag sei der, die Trennlinien innerhalb der menschlichen Persönlichkeit ebenso wie die in der menschlichen Gesellschaft insgesamt zu heilen. Er definierte Religion ihrem innersten Wesen nach als “Sinn und Geschmack für das Unendliche”, welche in jenem aufnahmefähigen Zustand ihren Anfang nähmen, wo sich das bewusste Erleben für das Unendliche öffne. Dieses Erfühlen des Unendlichen führe zu einem Akt der schöpferischen Phantasie, mittels dessen man dieses Gefühl sich und anderen vermittle. Da nun diese schöpferischen Akte – und demnach auch alle religiösen Lehren – einen Schritt weit von der Wirklichkeit des eigentlichen religiösen Erlebnisses entfernt seien, gäbe es bei ihnen auch ständig Raum für Verbesserung und Abwandlung.

Einige Zitate aus seinen Reden "Über die Religion" mögen einen Eindruck von seiner Denkart vermitteln.

“Erinnert Euch wie in ihr [der Religion] alles darauf hinstrebt, daß die scharf abgeschnittenen Umrisse unsrer Persönlichkeit sich erweitern und sich allmählich verlieren sollen ins Unendliche, daß wir durch das Anschauen des Universums so viel als möglich eins werden sollen mit ihm; sie aber sträuben sich gegen das Unendliche, sie wollen nicht hinaus; sie wollen nichts sein als sie selbst und sind ängstlich besorgt um ihre Individualität. . . . Versucht doch aus Liebe zum Universum Euer Leben aufzugeben. Strebt darnach schon hier Eure Individualität zu vernichten, und im Einen und Allen zu leben, strebt darnach mehr zu sein als Ihr selbst, damit Ihr wenig verliert, wenn Ihr Euch verliert; und wenn Ihr so mit dem Universum, soviel ihr hier davon findet, zusammengeflossen seid, und eine größere und heiligere Sehnsucht in Euch entstanden ist, dann wollen wir weiter reden über die Hoffnungen, die uns der Tod gibt, und über die Unendlichkeit zu der wir uns durch ihn unfehlbar emporschwingen.”

“Nun laßt uns höher steigen, dahin wo alles streitende sich wieder vereinigt, wo das Universum sich als Totalität, als Einheit in der Vielheit, als System darstellt, und so erst seinen Namen verdient; sollte nicht der, der es so anschaut als Eins und Alles, auch ohne die Idee eines Gottes mehr Religion haben, als der gebildetste Polytheist? . . . In der Religion also steht die Idee von Gott nicht so hoch als Ihr meint, auch gab es unter wahrhaft religiösen Menschen nie Eiferer, Enthusiasten oder Schwärmer für das Dasein Gottes; mit großer Gelassenheit haben sie das, was man Atheismus nennt, neben sich gesehen, und es hat immer etwas gegeben, was ihnen irreligiöser schien als dieses.”

Beide, Schiller und Schleiermacher, hatten einen starken Einfluss auf Ralph Waldo Emerson, wie aus dessen Schriften leicht ersichtlich ist. Manchmal heißt es, dass Emerson von den Religionen des Ostens beeinflusst sei, aber tatsächlich lieferten ihm seine Textstudien des Buddhismus und des Hinduismus nur Vers und Reim für das, was er schon von den Romantikern Europas gelernt hatte.

“Führe die Vergangenheit in die tausendäugige Gegenwart und lebe stets in einem neuen Tag. ... Mit starrer Folgerichtigkeit hat eine große Seele einfach nichts zu tun. ... Im Innersten sind Genie, Tugend und Leben das, was man Spontaneität oder Instinkt nennt. ... Jeder weiß, dass den eigenen unwillkürlichen Wahrnehmungen völliges Vertrauen gebührt.”

“Einigkeit fehlt in der Welt eben deswegen, weil der Mensch in sich selbst gespalten ist ... Wir leben in Fortsetzung, in Unterteilung, in Teilen, in Splittern. Gleichzeitig aber steckt im Menschen die Seele des Ganzen, die weise Stille, die universelle Schönheit, mit dem jeder Teil und jeder Splitter verknüpft ist, das Ewige. Und diese tiefe Kraft, in der wir existieren, deren seliger Schein uns in Gänze zugänglich ist, ist nicht nur zu jeder Stunde sich selbst genug und vollkommen, sondern das Sehen und das Gesehene, der Sehende und das Schauspiel, Subjekt und Objekt, sind eins.”

Heutzutage werden Romantiker und Transzendentalisten nur noch selten außerhalb von Literatur- oder Theologie-Seminaren gelesen. Ihre Ideen haben in unserer Kultur vor allem deswegen überlebt, weil sie von der Wissenschaftsdisziplin Psychologie aufgegriffen und in ein Vokabular übersetzt wurden, das gleichzeitig wissenschaftlicher, für die Allgemeinheit aber auch zugänglicher war. Einer der einflussreichsten Übersetzer war William James, der vor einem Jahrhundert dem psychologischen Studium der Religion seine moderne Form gab, als er 1902 sein Buch The Varieties of Religious Experience (dt.: Die Vielfalt religiöser Erfahrung) veröffentlichte. James’ breit gestreute Sympathien erstreckten sich über die westliche Kultur hinaus auch auf Buddhismus und Hinduismus, und außer auf die “akzeptablen” Religionen seiner Zeit auch auf die “Mental Culture”-Bewegung, das New-Age-Äquivalent des 19. Jahrhunderts. Sein Augenmerk auf Vielfalt lässt ihn erstaunlich post-modern aussehen.

Dennoch war James von den lebendigen intellektuellen Strömungen seiner Zeit beeinflusst, und das formte auch die Art und Weise, wie er seine große Menge an Daten in eine Psychologie der Religion umwandelte. Obwohl er als Wissenschaftler sprach, war die Strömung, die den tiefsten Einfluss auf sein Denken ausübte, die Romantik.

So folgte er den Romantikern, wenn er davon sprach, die Funktion der religiösen Erfahrung bestehe darin, das Gefühl des “gespaltenen Selbst” zu heilen und somit eine fester integrierte Selbst-Identität zu schaffen, die ihren Platz in der Gesellschaft besser einnehmen könne. Beispielsweise führen viele religiöse Erfahrungen zu einer starken Überzeugung von der Einheit des Kosmos als Ganzem. Obgleich der wissenschaftliche Beobachter dieses Gefühl des Eins-Seins als Tatsache zu akzeptieren habe, solle er es nicht als Beweis für eine tatsächliche Einheit des Kosmos behandeln. Stattdessen solle er ein jedes Erlebnis anhand dessen Auswirkungen auf die Persönlichkeit beurteilen. James war von den vielen sich gegenseitig widersprechenden Wahrheits-Behauptungen, die im Laufe der Jahrhunderte aus religiösen Erfahrungen entstanden waren, keineswegs beunruhigt. In seinen Augen benötigten unterschiedliche Temperamente unterschiedliche Wahrheiten als Heilmittel für ihre psychologischen Wunden.

Aus dem Methodismus entlehnte er zwei Kategorien zur Klassifikation jeglicher religiösen Erfahrung – Konversion (Bekehrung) und Sanktifikation (Heiligung) – und gab beiden eine romantische Interpretation. Bei den Methodisten bezogen sich diese beiden Begriffe konkret auf das Verhältnis der Seele zu Gott. Konversion war die Hinwendung der Seele auf Gottes Willen; Sanktifikation das Einstimmen der Seele auf Gottes Willen in allen ihren Handlungen. Um sie auf andere Religionen anwenden zu können, entfernte James den Bezug auf Gott, so dass eine mehr im Einklang mit der Romantik stehende Definition entstand: Konversion einigt die Persönlichkeit; Sanktifikation stellt die ununterbrochen vor sich gehende Integration dieser Einigung ins Alltagsleben dar.

Auch darin, dass er die Auswirkungen beider Arten von Erfahrung mittels rein weltlicher Maßstäbe beurteilte, folgte James den Romantikern. Konversions-Erfahrungen sind gesund, wenn sie eine gesunde Sanktifikation hervorbringen: die Fähigkeit, seine Integrität im Hauen und Stechen des Alltagslebens aufrechtzuerhalten und somit als moralisch gefestigtes und verantwortungsvolles Mitglied der menschlichen Gesellschaft zu agieren. Psychologisch betrachtet, sah James im Konversionserlebnis lediglich ein Extrembeispiel für die gleiche Art von Durchbrüchen, denen man gewöhnlich auch in der Pubertät begegnet. Und er stimmte mit den Romantikern ebenfalls überein, dass Persönlichkeitsintegration nicht ein einmal zu erreichendes Ziel, sondern ein lebenslang vor sich gehender Prozess sei.

Andere Autoren, die sich nach James der Religionspsychologie zuwandten, erschufen ein wissenschaftlicheres Vokabular, um ihre Fakten zu analysieren. Dennoch behielten sie viele der aus der Romantik stammenden Vorstellungen bei, die James auf diesem Gebiet eingeführt hatte.

So stimmte, zum Beispiel, auch Carl Gustav Jung ("Modern Man in Search of a Soul", 1933) damit überein, dass die eigentliche Rolle der Religion darin läge, die innere Spaltung der Persönlichkeit zu heilen, wobei er allerdings eine bei allen gleichermaßen vorhandene grundsätzliche Spaltung sah: das enge, furchtsame Ego im Gegensatz zum weiseren, weiträumigeren Unbewussten. Demgemäß betrachtete er die Religion als eine primitive Form von Psychotherapie. In der Tat befand er sich mit seiner Definition von psychischer Gesundheit sogar noch näher bei den Romantikern als James. Schillers Ausspruch zitierend, dass der Mensch nur da ganz Mensch sei, wo er spiele, betrachtete Jung die Entfaltung von Spontaneität und innerem Fluss sowohl als Mittel zur Integration der gespaltenen Persönlichkeit als auch als Ausdruck einer gesunden Persönlichkeit, die sich lebenslang mit dem niemals endenden Prozess der innerlichen und äußerlichen Integration befasste. (s. etwa auch Seelenprobleme der Gegenwart und Gesammelte Werke, Bd. 11: Zur Psychologie westlicher und östlicher Religion.)

Anders als William James siedelte C. G. Jung die integrierte Persönlichkeit als über den starren Grenzen des Moralgesetzes stehend an. Und obwohl er den von Keats geprägten Begriff der "negative capability" nicht verwendete, pries auch er die von jenem so bezeichnete Fähigkeit, mutig mit dem Ungewissen und Geheimnisvollen umzugehen, ohne den Versuch zu machen, ihm einengende Gewissheiten aufzuerlegen. Folglich empfahl Jung, solche religiösen Lehren zu adoptieren, welche geeignet waren, den Integrationsprozess zu unterstützen, gleichzeitig aber alles, was die Spontaneität des integrierten Selbst behindern könnte, abzulehnen.

In Religions, Values, and Peak-Experiences (1970) unterteilte Abraham Maslow, der amerikanische "Vater der Transpersonalen Psychologie", religiöse Erfahrungen in die gleichen zwei Kategorien, die auch William James verwendete. Da er sich aber nicht auf eine bestimmte Tradition stützen wollte, benannte er sie anhand ihres zeitlichen Verhaltens in Anlehnung an das Aussehen einer Gebirgslandschaft: Gipfelerlebnisse und Plateau-Erfahrungen. Diese Begriffe haben mittlerweile sogar Eingang in die Umgangssprache gefunden. Gipfelerlebnisse sind kurzfristige Gefühle des Eins-Seins und Eins-Werdens, die es nicht nur bei der Religion, sondern auch beim Sport, beim Sex und in der Kunst gibt. Plateau-Erfahrungen weisen ein stabileres Integrations-Empfinden auf und dauern wesentlich länger.

Maslow hatte wenig Verwendung für traditionelle Deutungen von Gipfelerlebnissen, die er als kulturellen Überbau betrachtete, welcher das wahre Wesen solcher Erfahrungen verschleiere. Er nahm an, dass alle Gipfelerlebnisse, unabhängig von Ursache und Begleitumständen, im Grunde ein- und dasselbe seien, und reduzierte sie deshalb auf die ihnen gemeinsamen psychologischen Merkmale, wie beispielsweise Empfindungen von Ganzheit, Übersteigen von Dichotomien, spielerisches, müheloses Agieren. Solcherart auf einen Nenner gebracht, so stellte er fest, besaßen sie keinen bleibenden Wert, außer es gelang, sie in Plateau-Erfahrungen umzuwandeln. Um dies zu bewerkstelligen, sah er die Psychotherapie als unabdingbar für ihre Vervollkommnung an: sie in ein der Beratung und Erziehung dienendes Regelwerk einzufügen, welches zur vollständigen Entfaltung der im Menschen angelegten – intellektuellen, körperlichen, gesellschaftlichen und sexuellen – Entwicklungspotenziale in einer Gesellschaft führen würde, in der alle Lebensbereiche heilig und Plateau-Erfahrungen für jedermann allgemein zugänglich sein würden.

Trotz aller Unterschiede waren es diese drei Vertreter der Religionspsychologie mit ihren Schriften, welche romantische Vorstellungen über die Religion im Westen am Leben erhielten, indem sie ihnen den Stempel der wissenschaftlichen Anerkennung aufdrückten. Unter ihrem Einfluss prägten diese Vorstellungen die humanistische Psychologie – und auf dem Wege über die humanistische Psychologie dann auch die Erwartungen vieler Menschen im Westen an den Dharma.

Vergleichen wir jedoch diese Erwartungen mit den ursprünglichen Grundaussagen des Dharma, so finden wir tiefgreifende Unterschiede. Besonders stark treten diese Gegensätze in den drei Kardinalfragen des spirituellen Lebens zutage: Was ist der Kern der religiösen Erfahrung? Zur Heilung welcher Grundkrankheit kann die religiöse Erfahrung dienen? Und was bedeutet es, geheilt zu sein?

Das Wesen der religiösen Erfahrung. Für die humanistische Psychologie ist, wie für den Romantiker, die religiöse Erfahrung ein unmittelbares Gefühlserlebnis, nicht die Entdeckung einer objektiven Wahrheit. Das wesentliche Empfinden ist dabei das des Eins-Seins, welches alle inneren und äußeren Trennlinien überwindet. Es gibt zwei Arten solcher Erfahrungen: Gipfelerlebnisse, bei denen das Gefühl des Eins-Seins die Schranken und dualistischen Gegensätze durchbricht; und Plateau-Erfahrungen, bei denen – entsprechend eingeübt – das Gefühl des Eins-Seins ein gesundes Selbstwertgefühl hervorbringt, welches alle Verrichtungen des Alltagslebens durchdringt.

Demgegenüber ordnet der Dharma, wie er in den frühesten Überlieferungen dargestellt ist, das Einüben des Eins-Seins und von einem gesunden Selbstwertgefühl als vor den dramatischsten religiösen Erfahrungen liegend an. Ein gesundes Selbstwertgefühl entwickelt sich durch das Einüben von Großzügigkeit und Tugend. Ein Gefühl des Eins-Seins – sei es als Gipfel- oder Plateau-Erfahrung – wird in den weltlichen Sammlungsstufen des Jhana erlangt, welche Bestandteil des Weges, aber nicht das Ziel der Übungspraxis sind. Die endgültige religiöse Erfahrung, das Erwachen, ist etwas völlig anderes. Es wird nicht als von Empfindungen, sondern als von Erkenntnis geprägtes Ereignis beschrieben: das geschickte Meistern der Kausalitätsprinzipien, welche Handlungen und ihren Folgen zugrunde liegen, gefolgt von der unmittelbaren Erkenntnis jener außerhalb der Kausalität liegenden Dimension, wo jegliches Leiden aufhört.

Die spirituelle Grundkrankheit. Die romantische/humanistische Psychologie gibt als Wurzel des Leidens das Gefühl eines gespaltenen Selbst an, das nicht nur innere Trennlinien – zwischen Vernunft und Emotion, Körper und Geist, Ego und Schatten – erzeugt, sondern auch äußere, die uns von anderen Menschen und dem Kosmos als Ganzem trennen. Der Dharma lehrt jedoch, dass der Kern des Leidens im Festhalten liegt, und dass die grundlegendste Form des Festhaltens die Selbst-Identifikation ist, unabhängig davon, ob sie auf ein endliches oder unendliches, fließendes oder statisches, unitäres oder nicht-unitäres Selbstgefühl bezogen ist.

Die erfolgreiche spirituelle Heilung. Die romantische/humanistische Psychologie behauptet, dass eine vollkommene, endgültige Heilung unerreichbar ist. Stattdessen ist Heilung ein ständig vor sich gehender Prozess der Persönlichkeitsintegration. Die erleuchtete Person zeichnet sich durch ein erweitertes, fließendes Selbstgefühl aus, das von starren moralischen Grenzen nicht eingeengt wird. Hauptsächlich von dem geleitet, was im Rahmen der gegenseitigen Vernetztheit als richtig erscheint, bringt man mit Leichtigkeit – wie ein Tänzer – die Rollen und Rhythmen des Lebens miteinander in Einklang. Nachdem man die schöpferische Antwort auf die Frage "Was ist meine wahre Identität" gefunden hat, ist man von der Notwendigkeit befreit, Gewissheit in Bezug auf die anderen Geheimnisse des Lebens erlangen zu müssen.

Der Dharma lehrt demgegenüber, dass das vollkommene Erwachen eine völlige Heilung bewirkt, indem man sich zum Ungewordenen jenseits von Raum und Zeit öffnet, worauf die Aufgabe gelöst ist. Die erwachte Person folgt im Anschluss daran einem Weg, "dessen Spuren nicht verfolgt werden können", kann aber dennoch nicht außerhalb der moralischen Grundprinzipien agieren. Eine solche Person erkennt, dass die Frage "Was ist meine wahre Identität" auf fehlerhaften Vorstellungen aufbaute, und kennt die völlige Befreiung von Zeit und Raum, die sich mit dem Tod einstellen wird, aus der eigenen unmittelbaren Erfahrung.

Vergleicht man diese beiden Traditionen Punkt für Punkt, ist es offensichtlich, dass die romantische/humanistische Psychologie – aus dem Blickwinkel des frühen Buddhismus – nur eine unvollständige und begrenzte Sicht auf die Möglichkeiten der spirituellen Übungspraxis gibt. Das bedeutet, dass die buddhistische Romantik, indem sie den Dharma in romantische Prinzipien übersetzt, nur eine unvollständige und begrenzte Sicht darauf gibt, was der Buddhismus zu bieten hat.

Nun spielen diese Einschränkungen für viele Menschen keine Rolle, weil sie zur buddhistischen Romantik aus Gründen kommen, die ihre Wurzeln mehr in der Gegenwart als der Vergangenheit haben. Die moderne Gesellschaft ist noch schizoider als alles, was die Romantiker je kannten. Sie hat uns in immer größerem Maße von immer weiteren Kreisen von Menschen abhängig gemacht, beläßt aber die meisten dieser Abhängigkeiten im Verborgenen. Unsere Nahrung und unsere Kleidung kommen aus dem Kaufhaus, aber wie sie dorthin gekommen sind, oder wer dafür verantwortlich ist, dass der Nachschub nicht stockt, wissen wir nicht. Wenn investigative Journalisten das Netzwerk der Verknüpfungen vom Feld bis zum Endprodukt in unseren Händen nachvollziehen, lesen sich die reinen Fakten, als kämen sie aus einem Drehbuch. Unsere Sweatshirts werden, zum Beispiel, aus in Usbekistan erzeugter Wolle hergestellt, wurden im Iran gewebt, in Südkorea genäht und schließlich in Kentucky zwischengelagert – ein unsicheres Netzwerk von gegenseitigen Abhängigkeiten, das kein geringes Maß an Leiden sowohl für die Lieferanten der Grundstoffe als auch die von immer billigeren Arbeitskräften aus dem Netz gedrängten weiterverarbeitenden Instanzen mit sich bringt.

Ob wir diese Einzelheiten nun kennen oder nicht, so spüren wir doch intuitiv die Zersplitterung und Ungewissheit, die von dem Gesamtsystem ausgeht. Folglich verspüren viele von uns das Bedürfnis nach einem Gefühl der Ganzheit. Die Nutznießer dieser verborgenen Abhängigkeiten des modernen Lebens verspüren ein korrespondierendes Bedürfnis nach einem Gefühl der Sicherheit, dass die gegenseitige Vernetzheit verläßlich und gutartig ist – oder aber, wenn nicht bereits jetzt schon gutartig, dass es mit machbaren Reformen dahin gebracht werden kann. Sie möchten hören, dass sie unbesorgt ihr Vertrauen in das Prinzip der gegenseitigen Vernetztheit setzen können, ohne befürchten zu müssen, dass es sich gegen sie wendet oder sie im Stich lässt. Dadurch, dass die buddhistische Romantik diese Bedürfnisse aufgreift, öffnet sie für viele das Tor in Bereiche des Dharma, wo sie den gesuchten Trost finden können. Indem sie das tut, bildet sie eine Ergänzung zu dem, was Aufgabe der Psychotherapie ist, und das mag erklären, warum so viele Psychotherapeuten sich um ihrer eigenen Bedürfnisse und denen ihrer Patienten willen der Dharmapraxis zugewandt haben, und warum einige von ihnen sogar selbst Dharmalehrer geworden sind.

Jedoch hilft die buddhistische Romantik auch mit, das Tor zu denjenigen Bereichen des Dharma zu verschließen, welche eine Herausforderung für die Hoffnung der Menschen darstellen würden, dass in gegenseitiger Vernetzheit endgültiges Glück zu finden sei. Der traditionelle Dharma ruft zu Entsagung und Opfer auf, eben weil jede Form von Vernetztheit im Grunde instabil ist, und jede Art von Glück, das auf derart schwankendem Untergrund aufbaut, einen Nährboden für Leiden darstellt. Wahres Glück muss gegenseite Abhängigkeit und Vernetztheit hinter sich lassen und weiter voranschreiten zum Ungewordenen. In ihrer Antwort darauf stempelt das Argument der Romantik diese Lehren als dualistisch ab: entweder als für das religiöse Erlebnis unerheblich oder als unzureichende Ausdrucksformen davon. Folglich, so lautet ihre Schlussfolgerung, kann man sie getrost ignorieren. Auf solche Weise verschließt das Tor den Zugang zu radikaleren Bereichen des Dharma, deren Zweck es ist, Formen des Leidens auf Ebenen anzusprechen, die selbst dann noch übrig bleiben, wenn ein Gefühl des Eins-Seins gemeistert wurde.

Zudem schließt es zwei Gruppen von Leuten aus, für die ansonsten die Dharmapraxis große Vorteile bringen würde:

  1. Diejenigen, die sehen, dass gegenseitige Vernetztheit das Leidensproblem nicht beenden wird, und nach einer radikaleren Heilmethode suchen.
  2. Diejenigen aus desillusionierten und benachteiligten Schichten der Gesellschaft, die von der Fortdauer der modernen Vernetztheit wenig zu erwarten haben und welche die Hoffnung auf sinnvolle Reformen oder darauf, innerhalb des Systems ihr Glück zu finden, aufgegeben haben.

Diesen beiden Gruppen erscheinen die Vorstellungen der buddhistischen Romantik als kindlich-naiv; und die dargebotene Lösung als viel zu oberflächlich. Als Dharma-Tor ist sie mehr wie eine Tür, die man ihnen vor der Nase zugeschlagen hat.

Wie so viele andere Erzeugnisse des modernen Lebens, sind die ursprünglichen Wurzeln der buddhistischen Romantik viel zu lange im Verborgenen geblieben. Eben deswegen haben wir sie nicht als das erkannt, was sie ist; genausowenig wurde uns der Preis bewusst, den wir dafür zahlen, dass wir den Teil für das Ganze halten. Ohne tiefgreifenden Umschwung in der US-amerikanischen Gesellschaft ist davon auszugehen, dass sie sicherlich überleben wird. Was gebraucht wird, sind Fenster und Türen, die Licht auf jene radikalen Aspekte des Dharma werfen, welche die buddhistische Romantik viel zu lange im Dunkeln gelassen hat.