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J 115
{Sutta: J i 429|J 115|J 115} {Vaṇṇanā: atta. J 115|atta. J 115}
Die Erzählung von der Warnerin
115
Anusasika-Jataka (Anusāsikajātakaṃ) [0a]
übersetzt aus dem Pali ins Deutsche:
Julius Dutoit

Die einen andern hat gewarnt

[§A]

Dies erzählte der Meister, da er im Jetavana verweilte, mit Beziehung auf eine warnende Nonne. Diese nämlich, eine aus Savatthi stammende Tochter aus guter Familie, war Nonne geworden. Von der Zeit ihrer Weihe aber betätigte sie nicht die Asketentugenden, sondern war auf materielle Gaben versessen; und nur in dem Teil der Stadt sammelte sie Almosen, wohin die anderen Nonnen nicht kamen. Die Leute aber gaben ihr vorzügliche Almosenspeise. — Durch die Lust nach Wohlgeschmack gefesselt, dachte sie nun: „Wenn in dieser Gegend andere Nonnen ihren Almosengang machen, wird mein Gewinn zu Ende sein; ich muss bewirken, dass in diese Gegend keine anderen kommen.“ Und sie ging in die Nonnenwohnung und warnte die Nonnen, indem sie sprach: „Ihr Edlen, an dem und dem Orte ist ein wilder Elefant, ein wildes Pferd, ein wilder Hund. Es ist ein Ort der Gefahr; sammelt dort keine Almosen!“ Als dies die Nonnen hörten, drehte keine Nonne auch nur den Hals nach diesem Orte, um hinzuschauen.

Als jene nun eines Tages dort ihren Almosengang machte und rasch in ein Haus hineinging, stieß sie ein wilder Widder und brach ihr den Schenkelknochen. Die Leute liefen rasch herbei, banden den entzweigebrochenen Schenkelknochen zusammen und brachten die Nonne auf einem Bette nach dem Nonnenkloster. Die Nonnen aber spotteten: „Diese hat die anderen Nonnen gewarnt und kommt, nachdem sie selbst dort herumging, mit gebrochenem Beine zurück.“

Diese ihre Tat aber wurde bald darauf in der Mönchsgemeinde bekannt. Eines Tages nun erzählten die Mönche in der Lehrhalle die Unehre der Nonne, indem sie sagten: „Freund, diese warnende Nonne hat andre gewarnt, ist aber, als sie selbst an jenem Orte wandelte, durch einen wilden Widder zu einem Schenkelbruch gekommen.“ Da kam der Meister und fragte: „Zu welcher Erzählung, ihr Mönche, habt ihr euch jetzt hier niedergelassen?“ Als sie sprachen: „Zu der und der“, sprach er: „Nicht nur jetzt, sondern auch schon früher warnte diese, sie selbst aber tat nicht danach; beständig kommt sie in Unglück.“ Und nach diesen Worten erzählte er folgende Begebenheit aus der Vergangenheit.

[§B]

Als ehedem zu Benares Brahmadatta regierte, nahm der Bodhisattva in einem Walde als Vogel seine Wiedergeburt. Als er herangewachsen war, wurde er der Anführer der Vögel und begab sich, von einigen hundert Vögeln umgeben, nach dem Himalaya. Während er sich dort aufhielt, begab sich ein keckes Vogelweibchen auf die große Heerstraße, und holte sich dort Futter. Als sie hier die von den Wagen gefallenen Reiskörner, Bohnen und Samenkörner fand, dachte sie: „Ich will bewirken, dass keine anderen Vögel hierher kommen“; und sie gab der Vogelschar folgende Ermahnung: „Die große Heerstraße ist voll Gefahren; dort verkehren Elefanten, Pferde u. dgl. und Wagen, die mit wilden Rindern bespannt sind. Man kann nicht rasch auffliegen; dorthin darf man nicht gehen.“ Dafür gab ihr die Vogelgemeinde den Namen „Warnerin“ [0b].

Als sie nun eines Tages auf der großen Heerstraße herumging, hörte sie das Geräusch eines rasch herbeikommenden Wagens. Sie drehte sich um und schaute hin; aber da sie dachte: „Er ist noch weit weg“, ging sie weiter. Aber der Wagen erreichte sie rasch mit Windeseile. Sie konnte sich nicht erheben und das Rad zerschmetterte sie beim Fahren. — Als nun der Vogelanführer die Vögel versammelte, sah er jene nicht und sagte: „Ich sehe die Warnerin nicht; sucht nach ihr.“ Als die Vögel nach ihr suchten, fanden sie sie auf der Heerstraße in zwei Stücke gespalten und teilten dies dem Vogelanführer mit. Darauf sagte der Vogelanführer: „Sie hat andere Vögel zurückgehalten, ist aber, als sie selbst dort herumging, in zwei Teile gespalten worden.“ Und danach sprach er folgende Strophe:

[§1] „Die einen andern hat gewarnt, war selbst zu sehr von Gier erfüllt und liegt nun ohne Flügel da, ein Vogel, umgebracht vom Rad.“
[§C]

Nachdem der Meister diese Lehrunterweisung beendigt hatte, verband er das Jātaka mit folgenden Worten: „Das Vogelweibchen war diese warnende Nonne, der Anführer der Vögel aber war ich.“

Ende der Erzählung von Anusāsika [0a]

Anmerkungen:

0a.
Bei Dutoit heißt das Jātaka „Die Erzählung von der Warnerin“. Ich ziehe es jedoch vor, den Eigennamen „Anusāsika“, den die Hauptperson in diesem Jātaka führt, im Titel unübersetzt zu lassen.
0b.
Auf Pali: „Anusāsika“.
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