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J 305
{Sutta: J iii 019|J 305|J 305} {Vaṇṇanā: atta. J 305|atta. J 305}
Die Erzählung von der Tugenduntersuchung
305
Silavimamsana-Jataka (Sīlavīmaṃsanajātakaṃ)
übersetzt aus dem Pali ins Deutsche:
Julius Dutoit

Die ganze Welt hat kein Versteck

[§A]

Dies erzählte der Meister, da er im Jetavana verweilte, mit Beziehung auf die Bezwingung der Sinnlichkeit.

[§D]

Die Begebenheit wird im elften Buche im Paniya-Jātaka [1] erzählt werden. Folgendes aber ist der Inhalt kurz zusammengefasst:

Fünfhundert Mönche, die drinnen im Jetavana wohnten, wurden um die mittlere Nachtwache von Lustgedanken befallen. Der Meister aber hat auch während der sechs Teile der Nacht und des Tages [2], so wie ein Einäugiger auf sein einziges Auge, wie ein Mann, der einen einzigen Sohn hat, auf diesen Sohn, wie ein Yak-Weibchen auf ihr Junges, beständig Acht auf die Mönche. Als er nun zur Nachtzeit mit seinem göttlichen Blick das Jetavana betrachtete, bemerkte er die Mönche, die wie Diebe waren, die in den Palast eines weltbeherrschenden Königs gelangt sind. Er öffnete sein duftendes Gemach, rief den Thera Ananda [3] herbei und sagte zu ihm: „Ananda, lass alle Mönche, die sich in dem Kloster befinden, das mit auf die Spitze gestellten Millionen belegt war[4], sich versammeln und lasse an der Tür zu meinem duftenden Gemache einen Sitz herrichten.“

Als jener dies besorgt, teilte er es dem Meister mit. Der Meister ließ sich auf dem hergerichteten Sitze nieder, und indem er die Mönche in ihrer Gesamtheit anredete, sprach er: „Ihr Mönche, die Weisen der Vorzeit dachten, für üble Taten gebe es kein Versteck, und taten deshalb nichts Böses.“ Nach diesen Worten erzählte er folgende Begebenheit aus der Vergangenheit.

[§B]

Als ehedem zu Benares Brahmadatta regierte, nahm der Bodhisattva in einer Brahmanenfamilie seine Wiedergeburt. Als er herangewachsen war, erlernte er ebendort zu Benares bei einem weitberühmten Lehrer als ältester von fünfhundert jungen Brahmanen die Wissenschaften. — Der Lehrer aber hatte eine erwachsene Tochter. Nun dachte er bei sich: „Ich will diese jungen Brahmanen auf ihre Tugend untersuchen und meine Tochter dem Tugendhaftesten von ihnen geben.“ Eines Tages sprach er zu seinen Schülern: „Meine Söhne, meine Tochter ist erwachsen; ich will ihr die Hochzeit zurüsten. Dafür muss ich aber Gewänder und Schmucksachen haben. Stehlet daher euren Verwandten, wenn sie es nicht sehen, Gewänder und Schmucksachen und bringt sie mir. Ich nehme aber nur das, was niemand gesehen hat; wenn ihr etwas herbeibringt, das ihr erst jenen gezeigt, so nehme ich es nicht.“

Die Schüler stimmten zu mit dem Worte: „Gut“. Und von da an stahlen sie ihren Verwandten, ohne dass diese es sahen, Gewänder und Schmucksachen und brachten sie ihrem Lehrer; der Lehrer legte alles, was sie brachten, gesondert zur Seite.

Der Bodhisattva aber brachte nichts. Da sprach zu ihm der Lehrer: „Mein Sohn, bringst du gar nichts herbei?“ „Nein, Meister“, war die Antwort. „Warum, mein Sohn?“ Darauf erwiderte der Bodhisattva: „Ihr nehmt nichts, was gebracht wird, wenn es einer gesehen hat. Ich aber kenne kein Versteck für üble Taten.“ Und um dies zu erläutern, sprach er folgende zwei Strophen:

[§1] „Die ganze Welt hat kein Versteck für den, der etwas Böses tut. Es sehen ihn die Waldesgeister; das hält der Tor für unbemerkt. [§2] Ich kenne nirgends ein Versteck, es gibt auch keinen leeren Ort; wo ich nur keinen andern sehe, der Ort ist doch nicht leer für mich!“

Der Meister war darüber befriedigt und sagte: „Mein Sohn, in meinem Hause ist kein Mangel an Geld. Ich aber wollte einem Tugendhaften meine Tochter geben und tat nur deshalb so, um diese jungen Brahmanen auf die Probe zu stellen. Für dich nur passt meine Tochter.“ Er schmückte seine Tochter und gab sie dem Bodhisattva zur Frau; zu den übrigen Brahmanenjünglingen aber sprach er: „Bringt alles, was ihr mir gebracht habt, nur wieder in euer Haus zurück!“

[§A2]

Nachdem der Meister mit den Worten: „So, ihr Mönche, erhielten die lasterhaften Brahmanenjünglinge infolge ihrer Lasterhaftigkeit das Mädchen nicht, der andre aber, der weise Jüngling, erhielt sie infolge seiner Tugendfülle“, die Erzählung beschlossen hatte, sprach er, der völlig Erleuchtete, die folgenden zwei andern Strophen:

[§3] „Der Unedle, der Niedrige, der Fröhliche, Behagliche, der Todeswerte und der Schwache [5] verließen voller Gier das Recht. [§4] Wie sollt' es brechen der Brahmane, in allen Tugenden vollendet? Wer stets das Rechte treu beachtet, wer bei der Wahrheit bleibt, ist weise [6].“
[§C]

Nachdem der Meister diese Lehrunterweisung beendigt und die Wahrheiten verkündigt hatte, verband er das Jātaka mit folgenden Worten (am Ende der Verkündigung der Wahrheiten aber gelangten jene fünfhundert Mönche zur Heiligkeit): „Damals war der Lehrer Sariputta, der weise Brahmanenjüngling aber war ich.“

Ende der Erzählung von der Tugenduntersuchung

Anmerkungen:

1.
Jātaka 459.
2.
Ebenso wie die Nacht in drei Nachtwachen, so zerfällt auch der Tag in drei Teile.
3.
Ananda hat für das leibliche Wohl seines Meisters zu sorgen und weilt deshalb immer in seiner nächsten Nähe. Zu der Erzählung selbst vergleiche man die Vorgeschichte zum 148. Jātaka.
4.
Vgl. zu diesem Ausdruck Jātaka 148 Anm. 1.
5.
Nach dem Kommentator sind dies die Namen von sechs aus den fünfhundert Schülern; in ihnen sind auch die andern alle zusammengefasst [5a].
5a.
Im Pali-Text sind die entsprechenden Worte klein geschrieben, so dass es sich wohl nicht um Namen, sondern – wie von Dutoit übersetzt – allgemein um Personen mit den genannten Eigenschaften handelt.
6.
Francis, der mit Neil den dritten Band der englischen Jātaka-Übersetzung herausgegeben hat, übersetzt merkwürdigerweise „won a bride“, wovon im Texte kein Wort steht.
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